Mordprozess im Fall Vasthi G. - sogar der Betreuer kaufte Martin H. die Geschichte vom Afghanistan-Einsatz ab

Lübeck/Großhansdorf. "Ich habe Martin immer als einen wahrgenommen, für den ich mich engagiert einsetzen sollte, um ihn ins Leben zurückzuführen." Reinhard S. hält einen Moment inne, bevor er fortfährt. "Es hat zwar viele Rückschläge gegeben. Aber ich habe immer eine Perspektive gesehen."

Zurzeit gibt es für Martin H. nichts, das einer Perspektive gleichkäme. Wegen Mordes an der Heilerziehungspflegerin Vasthi G. im Großhansdorfer Haus Rümeland angeklagt, lässt er im großen Saal des Landgerichts Lübeck auch den dritten Verhandlungstag wortlos über sich ergehen. Das Wort hat Reinhard S., 57, von Haus aus Kaufmann, seit sieben Jahren der gerichtlich eingesetzte gesetzliche Betreuer von Martin H. Ein Mann, der Behördenangelegenheiten regelt, Verträge unterschreibt, ohne dessen Zustimmung H. nicht mal zehn Euro ausgeben darf. Ein Mann, der Martin H. so gut kennen müsste wie kaum ein anderer. Wie gut hat er ihn wirklich gekannt?

Reinhard S. ist auch der Mann, der im Januar zustimmte, dass Martin H. bei einer Freundin übernachtete. "Er war ja immer vollkommen unauffällig", begründet der Großhansdorfer im Gerichtssaal seine Entscheidung. Was er nicht wusste und nicht ahnte: Eine Freundin gab es nicht, stattdessen setzte sich Martin H. nach Mailand ab, rannte dort immer wieder gegen eine Straßenlaterne und wurde über das deutsche Konsulat mit einer Wunde am Kopf zurück nach Großhansdorf gebracht. Drei Monate zuvor war dieser vollkommen Unauffällige schon mal verschwunden, hatte sich in der Schweiz die Pulsadern aufgeschnitten.

Nach Mailand habe H. gar nicht gewollt, berichtet Reinhard S., sondern nach Afrika. Denn der Betreuer weiß: "H. hat mit der Fremdenlegion geliebäugelt. Zum Militärischen fühlte er sich hingezogen, deshalb nahm er auch immer wieder Bezug auf Afghanistan."

Afghanistan. Dieses Wort zieht sich wie ein roter Faden durch den bisherigen Prozess. Afghanistan, jenes Land, in dem Martin H. für die Bundeswehr im Einsatz gewesen, aus dem er unter dem Eindruck grausamer Kriegserlebnisse stehend zurückgekehrt sein will. Die Bundeswehr hat indes keine Kenntnis von diesem Kapitel aus dem Leben des Martin H., das - so viel ist nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung sicher - nur in seiner Fantasie existiert.

Betreuer S. aber hat ihm geglaubt. "Ich musste mich ja auf das verlassen, was er mir erzählt hat", sagt er. Und er ist nicht der Einzige, der es geglaubt hat. Der im Haus Rümeland tätige Sozialpädagoge Dirk B. diagnostizierte im internen Förder- und Hilfeplan gar, H. sei "traumatisiert" aus Afghanistan zurückgekehrt. Nachgeprüft hat es vor der Polizei offenbar keiner. Betreuer S.: "Ich muss nicht forschen, ob eine Angabe aus einem Lebenslauf falsch ist. Ich muss eine positive Grundeinstellung behalten und in die Zukunft blicken."

Über das Vorstrafenregister seines Schützlings - Amoklauf in einem Oldesloer Hochhaus, Diebstahl einer Jagdwaffe in einer früheren Wohneinrichtung, versuchter Raub eines Mercedes' auf der Raststätte Buddikate - hat S. Bescheid gewusst, er habe auch Sabine O. informiert, die Heimleiterin des Hauses Rümeland. "Aber dass Martin gewalttätig werden könnte - diese Befürchtung gab's zu keiner Zeit", sagt er.

Niko Brill, Anwalt der als Nebenkläger auftretenden Familie, will nachhaken: "Was hätte Ihrer Meinung nach passieren müssen, damit Sie gesagt hätten: Hier müssen wir aufpassen?" Aber der Vorsitzende Richter Christian Singelmann geht dazwischen: "Eine Frage, die dem Zeugen eine derartige Wertung abverlangt, ist problematisch." Dennoch antwortet S., sagt: "Die Ansätze zur Gewalttätigkeit habe ich erkannt. Aber ich habe nicht gedacht, dass es diese Ausmaße annimmt."

Dass Martin H. nach dem versuchten Autoraub nicht im Gefängnis, sondern in einer Wohngruppe landete, ist auf eine Empfehlung des Psychiaters Wilhelm T., 45, zurückzuführen, seinerzeit Gutachter im Prozess. Der hatte sich gegen "Maßregelvollzug" ausgesprochen. Doch hatte er für eine offene oder geschlossene Betreuungseinrichtung für psychisch Kranke als Bewährungsauflage plädiert? Auch T. ist als Zeuge geladen worden. "Ich habe es offengelassen", sagt er nun. Der Vorsitzende Richter hält aus dem Protokoll vor: T. habe eine Einrichtung bei Flensburg - dort kam H. schließlich auch unter - als "besonders geeignet" bezeichnet.

Der Psychiater hat Martin H. nach dem Verbrechen im Haus Rümeland erneut gesprochen. Seine Einschätzung: Während die bisherigen Taten Martin H.s "völlig chaotisch" abgelaufen seien, sei diese "richtig geplant" gewesen. "Das passt nicht ins Bild.

Im Mai 2010 wäre Martin H.s Bewährungszeit zu Ende gewesen. Die Ahrensburger Psychiaterin Susanne U., 48, die ihn während seiner Zeit im Haus Rümeland wegen seiner schweren Persönlichkeitsstörung behandelt hat, sagt, sie hätte auch im Anschluss eine weitere Betreuung befürwortet.

Der Prozess wird am kommenden Mittwoch fortgesetzt.