Abendblatt-Schreibwettbewerb: Leserin Elisabeth Bacher über ihren Besuch in Syrien, ihr Gespräch mit George und den Beginn der Unruhen

Der alte Mann spuckte lachend die Schalen einiger Kürbiskerne in einen rosa Eimer: "Weißt Du, Baschar hat eigentlich überhaupt keine Ahnung von Politik." Es war Sommer 2004 und zum dritten Mal begleitete ich deutsche Archäologen auf einer Ausgrabungskampagne im Südwesten von Syrien.

Wir befanden uns in Mishrife, gut 20 Kilometer entfernt von Homs. George führte einen kleinen Laden. Er war einer der wenigen, die kein gerahmtes Foto des Staatspräsidenten Baschar Hafiz al-Assad in seinem Geschäft aufgehängt hatten. Er ließ kein gutes Haar an dem jungen Regierungschef, der nach dem Tod seines Vaters Hafiz al-Assad an die Macht gekommen war. "Du glaubst doch nicht, dass der selbst Entscheidungen trifft? Das ist die alte Kamarilla seines Vaters, die in Syrien die Fäden zieht", sagte er und erzählte von den blutigen Massakern, mit denen Hafiz al-Assad oppositionelle Aufstände im Land niedergeschlagen hatte.

Die Klingel von Georges Ladentür bimmelte, und ein schlaksiger Junge betrat das Geschäft. Er lehnte sich an die Theke. George setzte ein unverbindliches Lächeln auf: "Vielleicht bereitet uns unser gütiger, wundervoller Präsident eines Tages die Ehre, unser kleines Dorf zu besuchen, um sich die Funde der Archäologen anzuschauen." Ich war mehr als verwundert über die plötzliche Wendung, die unser Gespräch genommen hatte: "Du meinst, der Präsident kommt hierher, nach Mishrife?", fragte ich. "Warum nicht? Es ist immerhin sensationell, was die Archäologen hier gefunden haben." Der schlaksige Junge lehnte jetzt an einem Regal und verglich die Preise der Waschmittelpakete. George lehnte sich zurück, gähnte und schloss die Augen. Der Junge runzelte die Stirn und verließ das Geschäft.

Nachdem die Ladenglocke erneut gebimmelt hatte, öffnete George die Augen: "So, der kleine Lump hat heute nichts Neues erfahren." Irritiert blickte ich George an: "Wie meinst du das?"

Der Ladeninhaber spuckte auf den Boden aus: "Dieser Gauner schnüffelt hier fast täglich herum. Er ist nämlich einer der jüngsten Mitarbeiter des Muchabarat." Ich schüttelte den Kopf: "Du meinst, der Junge arbeitet für die staatliche Geheimpolizei? Der ist doch höchstens zehn Jahre alt!" George griff wieder in die Tüte mit den Kürbiskernen: "Denk mal scharf nach. Warum ist dieser Junge der einzige im ganzen Dorf, der ein neues Fahrrad und ein Handy besitzt?" George hatte recht. Andere Jungs spielten draußen mit toten Ratten. Dieser Junge konnte es sich leisten, bei George Süßigkeiten einzukaufen. "Jeder horcht jeden aus - sogar die Söhne die eigenen Väter", sagte George traurig. "Das Volk ist wütend, darf es aber nicht zeigen. Wir brodeln hier wie in einem riesigen Kochtopf vor uns hin: Eines Tages wird das Wasser überkochen."

Mein letzter Besuch in Syrien ist jetzt acht Jahre her. Das brodelnde Wasser im Kochtopf ist längst übergekocht, doch noch immer versucht der Staat mit aller Gewalt, den Deckel draufzuhalten. Wie lange noch?

Ich denke oft an George. Vielleicht ist er gar nicht mehr am Leben. Vielleicht sitzt er aber immer noch in seinem Laden, knackt Kürbiskerne und träumt von einem besseren Syrien.

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