Abendblatt-Schreibwettbewerb: Leserin Ursula Busch berichtet über die US-Aktion “Care“ und den Beginn einer echten Freundschaft.

Stormarn. Der Krieg war vorbei. Und unsere Familie bekam eine neue Heimat. Die Flucht meiner Mutter im offenen Güterwaggon aus Schlesien - durch die Dresdner Bombennacht mit ihrem Erstgeborenen und mir noch unter dem Herzen - war der größte Bruch in ihrem bisherigen Leben.

Im Siegerland in Westfalen fand man nach der ersten Einquartierung in Bayern eine neue Bleibe: ein Zimmer für inzwischen vier Personen und bald darauf fünf im Bahnhofsgebäude direkt über der Schalterhalle. Unser Vater hatte als Güterbodenarbeiter bei der Reichsbahn Arbeit im Schichtdienst gefunden. In dieser Zeit lebte meine Familie in großer Armut und Sorge um uns Kinder.

Dann kam 1948. Uns erreichte ein Carepaket aus Amerika. Die Hilfsaktion "Care" war von den Amerikanern 1946 ins Leben gerufen worden, um der deutschen Bevölkerung in ihrer schweren Zeit die Not zu lindern. Sie schickten Pakete mit Grundnahrungsmitteln wie Zucker, Reis und Brot, mit Seife, Erdnussbutter, Konserven, Textilien und Schokolade. Die Verteilung erfolgte über die Kirchengemeinden. Wir fühlten uns wie im siebten Himmel. In diesem Paket befand sich unter anderem eine Schürze für meine Mutter. Die Pakete durften keinen Absender haben. Das war verboten. Aber beim Anprobieren entdeckte sie in der Schürzentasche einen zerknautschten Papierfetzen, auf dem mit Kinderhandschrift ein Name und eine Adresse notiert waren.

Meine Mutter schrieb einen überschwänglichen Dankesbrief an die großherzige Familie nach South Dakota. Sie schilderte die Situation unserer Familie und legte noch eine Landkarte vom damaligen Deutschland mit hinein, auf der unser Wohnort markiert und der Fluchtweg eingezeichnet war. Wie wir viele Jahre später erfuhren, gab es beim Erhalt dieses Briefes immense Aufregung.

+++ Teilnahmebedingungen +++

Ein staatliches Verbot überschritten zu haben, löste Panik in der Familie aus. Niemand beherrschte unsere Sprache. Und so konnte der verbotene Brief lange nicht übersetzt werden. Schließlich fand sich eine vertrauensvolle, deutschsprachige Frau, die unter dem Siegel der Verschwiegenheit den Brief übersetzte.

Auslöser des Geschehens war die kleine Janet gewesen, die gerade in der Schule schreiben gelernt hatte. Mit ihrer Mutter hatte sie das Paket gepackt und den Zettel mit der Adresse in die Schürzentasche gesteckt. Wir bekamen nun jedes Jahr zur Weihnachtszeit ein Paket aus Amerika mit wunderbaren Sachen zum Anziehen. Auch Spielsachen wie eine Zaubertafel oder ein Kaleidoskop waren darin und Süßigkeiten, die ganz anders schmeckten als die von unserem Krämer. Vor Weihnachten wurde die Geduld von uns Kindern jedes Mal auf eine harte Probe gestellt.

1960 starb die Mutter der amerikanischen Familie durch einen Unfall. Der Kontakt war unterbrochen, bis sich der Senior der Familie, ein ehemaliger Auswanderer aus Norwegen, die Zeit nahm, uns ausfindig zu machen. Das gelang über das Kirchenamt im Siegerland, denn 1949 hatte die Familie von den Staaten aus die Patenschaft für meinen jüngeren Bruder übernommen.

1988 lernten wir uns endlich persönlich kennen. Es war eine spannende und aufregende Begegnung. Die Freundschaft ging auf uns, die sogenannte Nachkriegsgeneration, über. So gab es in den vergangenen 25 Jahren gegenseitige Besuche, die uns unsere Heimatländer näher brachten. Gemeinsame Besuche Berlins, die Besichtigung des Reichstags und des Alliierten Museums halfen, die damalige Entwicklung aufzuarbeiten. In Tennessee, wo unsere Freunde heute leben, zeigte Janet uns die alte Deutschlandkarte, die sie wie ein Schatz hütet.

Die Aktion "Care" hat mit der beispielhaften humanitären Hilfe meiner Familie sehr geholfen, mein Leben beschenkt und reicher gemacht. Dafür bin ich für immer außerordentlich dankbar.

Alle Berichte sowie die bislang veröffentlichten Texte zu der Aktion "Stormarn schreibt ein Buch" finden Sie im Internet unter www.abendblatt.de/stormarnschreibt