Der Kirche sind bis jetzt 13 Missbrauchsfälle in Ahrensburg bekannt. Bischöfin Kirsten Fehrs stellt sich der Diskussion mit der Gemeinde.

Ahrensburg. Der 1. April 2012 wird in das Geschichtsbuch der Schlosskirche eingehen. Dass zwei Bischöfe am selben Tag im selben Gotteshaus predigen und sich dem Gespräch mit einer in ihren Grundfesten erschütterten Kirchengemeinde stellen, hat es in Ahrensburg noch nie gegeben. Wer also an diesem Sonntag um 11 Uhr im schlichten, nachgotischen Backsteinbau von 1595 einen Platz finden will, muss früh aufstehen. Sonst verpasst er den ersten öffentlichen Auftritt der neuen Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck in Ahrensburg. Kirsten Fehrs wird zusammen mit Bischof Gerhard Ulrich (Sprengel Schleswig und Holstein) über ihre Sicht der Dinge zum bislang schwersten bekannt gewordenen Missbrauchsskandal in der evangelischen Kirche sprechen.

"Ich möchte zur Aufarbeitung beitragen und anstelle der gegenseitigen Schuldzuweisungen der vergangenen Wochen und Monate ein konstruktives Gespräch aufnehmen", sagte Fehrs dem Abendblatt. Sie suche einen "Einstieg in einen Versöhnungsprozess in einer gespaltenen Gemeinde, in der alle einen tiefen Schmerz empfinden, in der alle verloren haben". Erstmals nennt die Bischöfin konkrete Zahlen: "Wir wissen von 13 Opfern im Fall Kohl." Mit den meisten habe sie persönliche Gespräche geführt, "jeweils zwischen zweieinhalb und vier Stunden, mit einigen mehrfach." Die Bischöfin gehe aber davon aus, dass es weitere Opfer des Mannes gibt, der von 1973 bis 1999 Pastor im Kirchsaal Hagen war und dessen Übergriffe auf Kinder und Jugendliche in den 70er- und 80er-Jahren erst im Mai 2010 öffentlich wurden. Kirsten Fehrs hofft, dass sich mögliche weitere Opfer bei ihr oder den Ombudsfrauen melden.

+++Bischöfin Fehrs nennt erstmals konkrete Opferzahlen+++

+++Kirche kennt 13 Missbrauchsopfer+++

An die Bischöfe Fehrs und Ulrich, Oberhirten von fast zwei Millionen Protestanten im Norden, werden in der Schlossstadt hohe Erwartungen gestellt. Schließlich werden der Kirchenleitung und dem Kirchenamt in Kiel von Gemeindegliedern, Opferinitiativen und aus den eigenen Reihen immer wieder schwere Vorwürfe im Umgang mit dem Skandal gemacht, der bundesweit für Schlagzeilen sorgte. Zuletzt hatte der Ahrensburger Pastor Helgo Matthias Haak am vergangenen Sonntag in seiner Predigt eine "lückenlose Aufklärung" gefordert. Die Vorgänge würden nicht weiter untersucht, "weil höchste kirchliche Persönlichkeiten ins Zwielicht geraten sind", Gras über die Sache wachsen solle. Namen will Haak nicht nennen, sagt auf Anfrage nur so viel: "Kohl ist seinerzeit versetzt worden. Die Versetzung eines Pastors ist immer ein Vorgang, bei dem Pröpste, Bischöfe und Kirchenamt beteiligt sind, mithin höchste Persönlichkeiten. Ich stelle die Frage, wie das 1999 - und nicht nur 1999 - gelaufen ist." Antworten darauf sucht offenbar auch die Kirche. Laut Kirsten Fehrs will Nordelbien mit dem Kirchenkreis Hamburg-Ost eine unabhängige Expertenkommission einsetzen, die das "System Missbrauch" und den Umgang mit Aufklärung und Prävention analysieren soll.

Der Vorwurf Haaks, die Kirche begegne den Missbrauchsopfern nicht auf Augenhöhe, habe Bischöfin Kirsten Fehrs "tief getroffen". Sie sagt: "Falsche Behauptungen sind kontraproduktiv und sorgen nur für neue Spaltung." Sie habe sich intensiv mit Betroffenen ausgetauscht - bei den Opfern zu Hause oder in der Bischofskanzlei an der Esplanade in Hamburg. Es habe viel Zeit in Anspruch genommen, eine Vertrauensbasis zu diesen Menschen aufzubauen. Fehrs: "Einige Opfer kennen einander schon jahrzehntelang, ahnten aber nichts vom gemeinsamen Schicksal." Helgo Matthias Haak sagt, er habe erst aus dem Abendblatt erfahren, dass es bereits Gespräche zwischen Kirchenleitung und Opfern gibt. Das sei "eine erfreuliche Nachricht, ein Durchbruch." Endlich sei der Fall auf höchster Ebene angekommen. Seine Motivation zur harschen Kritik an seinem Arbeitgeber begründet der Pastor so: "Das Leid der Opfer muss im Zentrum stehen. Das ist das Evangelium. Mein Beruf ist es, das weiterzusagen. Es muss beschrieben werden, was geschehen ist. Erinnerung ist das Geheimnis der Versöhnung." Versöhnung sucht auch Bischof Ulrich. Seine Motivation für den Besuch in Ahrensburg begründet er so: "Ich wünsche mir für den Gottesdienst und das Gemeindegespräch eine offene und ehrliche Atmosphäre. Die Gespräche werden zur gegenseitigen Wahrnehmung und weiteren Aufarbeitung beitragen. Neue Spaltungen führen nur zu weiteren Verletzungen und werden den Betroffenen nicht gerecht."

+++Pastor kritisiert Umgang mit Missbrauchsskandal+++

Von der Kanzel der Schlosskirche hatte Helgo Matthias Haak vor einer Woche noch einmal Öl ins Feuer gegossen, gesagt: "Der Missbrauchsskandal ist zu einem nordelbischen Aufklärungsskandal geworden." Klare Worte seitens der Kirchenführung fehlten ihm bislang. Dem widerspricht Kirsten Fehrs. Die Aufklärung des Skandals sei keinesfalls abgeschlossen: "Uns ist klar geworden, dass es in Ahrensburg ein System Missbrauch gab. Nun müssen alle hinschauen und versuchen zu erfassen, wie das geschehen konnte." Fehrs wirbt um Verständnis dafür, "dass die Kirchenleitung nicht alles, was wir wissen, sofort in die Öffentlichkeit tragen kann." Das sei ein juristisches Dilemma, diene aber letztlich auch dem Schutz der Opfer.

Fraglich bleibt, wie viele Menschen von Dieter Kohls Übergriffen wussten, ohne einzuschreiten. Sein ehemaliger Kollege hat dies ebenso zugegeben wie "Liebesbeziehungen" zu zwei jungen Frauen. Das Verfahren gegen den Ruhestandsgeistlichen Friedrich H. vor dem Kirchengericht, einer unabhängigen Kammer, dauert an. Bischöfin Fehrs sagt zu diesem Fall: "Ich habe keine Akteneinsicht." Nach Informationen des Abendblattes soll dieses Verfahren in etwa zwei Monaten abgeschlossen sein.

+++Bischöfin Kirsten Fehrs bittet um Verzeihung+++

Fraglich bleibt auch, warum Kohls Taten nicht spätestens 1999 aufflogen, als sich eine Frau an die damals zuständige Pröpstin wandte, von ihren schrecklichen Erlebnissen und dem Leid weiterer männlicher Opfer berichtete. Warum die Pröpstin zwar für die Versetzung des Täters sorgte, jedoch niemand ein Disziplinarverfahren einleitete oder Strafanzeige erstattete. Und warum Nordelbien nicht verhinderte, dass der ehemalige Kirchsaal-Pastor bis zum Jahr 2003 am Gymnasium Stormarnschule Religion unterrichtete. Auch auf diese Fragen erwarten sich viele Ahrensburger Antworten an diesem Sonntag. Über mögliche Entschädigungen von Missbrauchsopfern sagt die Bischöfin: "Damit haben wir bisher keine Erfahrungen. Wir warten noch auf die bundesweite Abstimmung mit der EKD." In Einzelfällen habe es bereits schnelle und unbürokratische Hilfe gegeben. "Wir möchten uns jeden Einzelfall anschauen. Der Plan ist, einen unabhängigen Experten zu Rate zu ziehen sowie je einen Vertreter der Synode und des Bischofskollegiums." Möglicherweise mache Fehrs selbst Vorschläge, oder Opfer melden Ansprüche an. "Pauschalzahlungen jedenfalls wären unangemessen. Jeder einzelne Fall muss gesondert berücksichtigt werden", sagt Kirsten Fehrs. "Nicht allein finanzielle Entschädigung bringt aber Entlastung, sondern es braucht menschliche Zuwendung für das erlittene Leid. Einen wirklichen Ausgleich für das Trauma wird es nicht geben." Daher sei der Begriff Entschädigung ohnehin "irreführend".

Hamburgs neue Bischöfin, die sich an diesem Wochenende erneut mit den schweren Versäumnissen anderer auseinandersetzen muss, wirbt dafür, "das Leid der Opfer und das Leid der Gemeinde anzuerkennen. Wir müssen von der Selbstrechtfertigung zur Selbstreflektion kommen. Sonst bleiben wir beim Schlagabtausch des ewig Gleichen." Nach vielen intensiven Gesprächen habe sie verstanden, was den Opfern widerfahren ist. Sie wolle niemanden in der Gemeinde verurteilen, sondern denen Respekt zollen, die ihre Erlebnisse offenbarten. Und den amtierenden Pastoren, die das Gemeindeleben trotz allem aufrecht erhalten. Kirsten Fehrs: "Wir wollen keine weitere Eskalation. Wir wollen Gespräche, wir wollen Versöhnung."