Neun Mal nahmen Behörden Eltern die Kinder weg. “Es gibt Fälle, in denen Babys die Oberschenkel gebrochen werden.“

Bad Oldesloe. Ein ganz normaler Tag im Stormarner Jugendamt, irgendwann im Jahr 2009. Das Telefon klingelt, der Anruf kommt von einer Grundschule. "Ein Schüler der vierten Klasse war mit zahlreichen Hämatomen am Rücken aufgefallen", sagt Gerald Wunderlich, Leiter des Fachdienstes Soziale Dienste vom Kreis. Etwa 20 Blutergüsse stellt ein Arzt später fest, sie stammen von verschiedenen Werkzeugen und Gürtelschnallen. "Das Kind war eindeutig geschlagen worden", sagt Wunderlich.

Zum Arzt konnte der Viertklässler jedoch nur, weil das Jugendamt ihn noch am selben Tag in Obhut nahm und im Oldesloer Kinderheim St. Josef unterbrachte - zunächst gegen den Willen der Eltern. "Für Notsituationen, in denen eine dringende Gefahr besteht, gibt es bei uns immer einen Mitarbeiter im Bereitschaftsdienst, der zur Inobhutnahme berechtigt ist", sagt Wunderlich.

2009 wurden neun Kinder in Stormarn so vor weiteren Gefahren in ihren Familien geschützt. "Die Zahl hat sich in den vergangenen neun Jahren kaum verändert", sagt Wunderlich. Notsituationen entstehen zum Beispiel, wenn Kinder unter drogenabhängigen oder überforderten Eltern leiden, geschlagen oder sexuell missbraucht werden.

Wenn die Jugendamtsmitarbeiter Familien aufsuchen, weil der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung besteht, werden sie selten freundlich begrüßt. "Die Situationen können ganz unterschiedlich sein", sagt Gerald Wunderlich. "Da gibt es Jugendliche, die die Sozialarbeiter mit Baseballschlägern bedrohen - oder Kinder, die Computer auf Erwachsene werfen." Doch wenn ein Kind in Gefahr ist, muss das Jugendamt handeln. Fälle wie der der verhungerten siebenjährigen Jessica aus Hamburg sollen sich nicht wiederholen. Auch die Stormarner Jugendamtsmitarbeiter erleben immer wieder furchtbare Situationen. "Es gibt Fälle, in denen kleinen Babys die Oberschenkel oder das Schlüsselbein gebrochen werden", sagt Wunderlich.

Die erfahrenen Sozialarbeiter und Sozialpädagogen werden speziell geschult. Denn die Inobhutnahme greift in das Sorgerechts- und Aufenthaltsbestimmungsrecht der Eltern ein. "Die Kinder bringen wir entweder ins Kinderheim oder in Bereitschaftspflegestellen", sagt Wunderlich. In diesen speziell ausgebildeten Familien werden sie vorübergehend betreut. Nimmt das Jugendamt ein Kind in Obhut, muss der Fall schnellstmöglich einem Familiengericht vorgelegt werden. Damit das nicht länger als 24 Stunden dauere, habe auch am Wochenende ein Richter Bereitschaftsdienst, sagt Gerald Wunderlich. Die Richter bestätigten in der Regel, dass die Inobhutnahme durch das Jugendamt gerechtfertigt gewesen sei, so Wunderlich. "Oft stimmen aber auch die Eltern der Maßnahme im Nachhinein zu."

So auch im Fall des Viertklässlers. "Als sich die Eltern beruhigt hatten, haben sie einen Antrag auf Hilfen zur Erziehung gestellt", berichtet Wunderlich. Das Kind blieb noch einige Wochen im Kinderheim, dann begleitete das Jugendamt die Familie mit ambulanten Maßnahmen. "Das Wichtigste in solchen Fällen ist: Das Erziehungsverhalten muss sich ändern", sagt Wunderlich. Oft wüssten Eltern nicht, wie sie mit ihren Kindern umgehen müssten. "Manche Eltern sind mit der Erziehungsarbeit überfordert."

Um Notsituationen zu erkennen, ist das Jugendamt auf aufmerksame Bürger angewiesen. "Wir bekommen etwa 500 bis 600 Anrufe pro Jahr", sagt Wunderlich. Es melden sich die Polizei, Kitas, Schulen oder Nachbarn, die den Verdacht haben, dass ein Kind misshandelt oder vernachlässigt wird. Als bundesweit einer der ersten Kreise hat Stormarn mit allen Kitas eine Vereinbarung geschlossen. "Die Erzieher wissen so, was im Verdachtsfall zu tun ist", sagt Wunderlich. In keinem Fall geben die Mitarbeiter des Jugendamts weiter, von wem der Hinweis kam. "Wenn es diese Menschen nicht gäbe, wären uns viele Fälle nicht bekannt", sagt Wunderlich. Die hohe Zahl der Anrufe sieht er deshalb positiv. "Ich bin froh darüber. Das zeigt, dass die Stormarner hingucken und bereit sind, Verantwortung für die Kinder zu übernehmen." Denn jeder dieser Anrufe kann ein Kinderleben retten.