Experte sagt: “Wir fordern mehr Distanz zwischen Sachverständigen und beklagten Ärzten.“ Und die Ärztekammer soll die Versicherungspflicht kontrollieren.

Ahrensburg. Nach einer falschen Krebsdiagnose wird ein Mann unnötig operiert. Bei einem anderen Patienten erkennt ein Arzt eine Entzündung im Knie nicht. Das Bein muss amputiert werden. Ein Mann stürzt vom Röntgentisch, erleidet eine Fraktur. Drei Menschen sind nach Bandscheibeneingriffen querschnittgelähmt. Fünf Kinder werden durch Ärztefehler bei der Geburt verletzt - das sind nur einige von 183 dokumentierten Fällen, die die Allgemeine Ortskrankenkasse in Ahrensburg jetzt aus ihren Erhebungen aus den Jahren 2000 bis 2007 schildert. Nach gründlicher Prüfung bestätigte sich: 56 Mal wurden Stormarner Opfer von Ärztepfusch. In den Jahren 2000 bis 2009 beschwerten sich bei der AOK in Schleswig-Holstein etwa 2400 Menschen über falsche oder nicht rechtzeitige Behandlung. Bei rund 20 Prozent der Fälle wurden Fehler nachgewiesen. Die meisten aus den Bereichen Chirurgie (41 Prozent), Orthopädie (15 Prozent) und Gynäkologie (neun Prozent). Diese Zahlen gab gestern das Institut Medizinschaden in Ahrensburg bekannt. Bei der Techniker Krankenkasse haben 2008 landesweit 133 Patienten einen Behandlungsfehler angezeigt, hier vor allem im der Chirurgie und Geburtshilfe.

"In den 'schneidenden Fächern' merkt der Patient am schnellsten, wenn etwas nicht stimmt", sagt Dr. Holger Thomsen, Leiter des Instituts Medizinschaden der AOK Schleswig-Holstein. In jedem Fall muss der Fehler und der daraus folgende Schaden für den Patienten nachgewiesen werden. Doch bis tatsächlich ein Ausgleich für den Schaden gezahlt wird, kann es oft Jahre dauern. "Wenn ein Patient zu uns kommt und wir einen Behandlungsfehler vermuten, erstellen wir zuerst ein Gutachten", sagt der Mediziner. "Denn nicht jede Komplikation ist automatisch auch ein Behandlungsfehler."

Stellt der Gutachter tatsächlich einen Fehler fest, kann die Krankenkasse vor Gericht ihre Kosten von der Haftpflichtversicherung des Arztes oder des Krankenhauses zurückfordern. Klagt der Patient in einem eigenen Prozess auf Schadenersatz, kann er sich an diesem Gerichtsurteil orientieren. Thomsen kritisiert jedoch, dass die vom Gericht bestellten Sachverständigen teilweise absichtlich falsche Gutachten ablieferten, weil sie Kollegen schützen wollten. "Wir fordern mehr Distanz zwischen den Sachverständigen und den beklagten Ärzten", sagt er. "Je weiter die Entfernung, desto objektiver die Gutachten." Denn dieses Papier sei schließlich die Grundlage für eine Gerichtsentscheidung in der Frage, ob der Arzt einen Fehler gemacht hat.

Aber bis es tatsächlich zum Prozess kommt, gibt es laut Thomsen weitere Hindernisse, die das Verfahren verzögern - teilweise jahrelang. "Bei Behandlungsfehlern gilt eine Verjährungsfrist von nur drei Jahren", sagt Thomsen. Deshalb spielten manche Ärzte, Krankenhäuser und Versicherungen auf Zeit. "Erstens sprechen viele Ärzte nicht mit den Patienten, wenn etwas schief gelaufen ist", sagt er. Sie ignorierten die Beschwerden oder machten sich darüber lustig. Kliniken und Ärzte weigerten sich zudem oft, die Unterlagen des Patienten herauszugeben. Der Patient habe zwar das Recht auf Kopien, sagt Holger Thomsen. "Dann soll er aber zum Beispiel für seine 200-Seiten-Akte fünf Euro pro Kopie zahlen - das ist unzulässig", sagt er.

Doch auch nach einem positiven Urteil gibt es nicht immer Geld. "Wir mussten 370 000 Euro abschreiben, weil ein Gynäkologe nicht ausreichend haftpflichtversichert war", so Thomsen. Ärzte sind in Schleswig-Holstein laut Berufsordnung zwar verpflichtet, sich "hinreichend" zu versichern. "Die Ärztekammer kontrolliert aber nicht, ob das eingehalten wird." Hans-Peter Bayer, Justiziar der Ärztekammer Schleswig-Holstein, sagt dagegen: "Mir ist kein Fall bekannt, bei dem keine ausreichende Versicherung bestanden hätte." Laut Thomsen weigern sich Haftpflichtversicherer zudem regelmäßig zu zahlen - auch bei eindeutigen Fehlern. "Ist am falschen Knie operiert worden, heißt es: Das hätte auch bald operiert werden müssen", sagt Thomsen. "Da gibt es groteske Fälle."