Die 53 Jahre alte Elke Ehlebracht-Spreen entschied sich für die Behandlung mit Tarceva. Ihr Tumor hat sich um die Hälfte verkleinert.

Großhansdorf. Eine Woche hat sieben Tage. Ein Tag 24 Stunden. Eine Stunde 60 Minuten. Eine Zeitrechnung, die für Elke Ehlebracht-Spreen nicht gilt. "Die vergangenen zwei Jahre kommen mir gefühlt wie acht Jahre vor", sagt die 53-Jährige. Weil sie seit dem 1. Oktober 2007 jeden Tag ganz bewusst und intensiv lebe. Denn das war der Tag, an dem sie erfuhr, dass sie Lungenkrebs hat. Im Stadium IV. Inoperabel. Unheilbar. "Das ist mein Todesurteil, dachte ich zuerst", sagt Ehlebracht-Spreen, die mit ihrer Familie in Lüneburg wohnt. Sie ringt um Fassung. Ihre warmen braunen Augen füllen sich mit Tränen. "Die Diagnose hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Mich komplett aus der Bahn geworfen. Immer wieder habe ich mich gefragt: Warum ich? Ich habe mich immer gesund ernährt, Sport getrieben und bin Nichtraucherin."

Eine Woche später begann sie im Krankenhaus Großhansdorf, Norddeutschlands größter Lungenklinik, mit der knapp sechs Monate langen Chemotherapie. Eine Zeit, in der ihr Mann und die beiden 22 und 23 Jahre alten Töchter ihr viel Kraft gegeben haben. Doch im Sommer 2008 fing der Tumor wieder an zu wachsen.

Elke Ehlebracht-Spreen nahm erneut den Kampf gegen ihren größten Feind auf. Sie entschied, sich mit Tarceva behandeln zu lassen. Das Medikament ist seit 2005 auf dem Markt, wird in Form von Tabletten verabreicht und ist der Hoffnungsträger vieler Lungenkrebspatienten. "Der Wirkstoff Erlotinib blockiert den sogenannten epidermalen Wachstumsfaktor Rezeptor. Dadurch wird ein wichtiger Signalweg in der Tumorzelle blockiert, der zu Wachstum und Metastasenbildung führt", sagt Martin Reck, Oberarzt im Zentrum für Pneumologie und Thoraxchirugie im Krankenhaus Großhansdorf. Er ist auch Leiter der Klinischen Forschung Onkologie. Eingesetzt wird die Arznei nach der ersten Chemotherapie, wenn der Krebs wieder wächst. "Wir haben bislang rund 400 Patienten mit dem Medikament behandelt und zum Teil sensationelle Erfolge erzielt", sagt der Experte. "Drei von sechs Patienten konnten wir mit Tarceva stabilisieren oder ihren Tumor sogar zur Rückbildung bringen."

So wie bei Elke Ehlebracht-Spreen. "Nach vier Wochen hat sich mein Tumor um die Hälfte verkleinert", sagt die Frau in den Jeans und der schicken grauen Jacke. Begeisterung und Zuversicht schwingen in ihrer Stimme. "Ich sehe das Medikament als meine Chance. Meine einzige Chance." Jeden Tag muss sie eine Tablette schlucken. Noch nie habe sie vergessen, die Arznei einzunehmen. Die unangenehmen Nebenwirkungen, wie zum Beispiel Hautausschläge, Ekzeme und Durchfall, erwähnt sie nur am Rande. Wichtig ist nur, dass der Tumor nicht wieder wächst.

"Die Chance, dass die Krankheit bei Frau Ehlebracht-Spreen durch Tarceva zurückgeht, lag bei unter zehn Prozent", sagt Privatdozent Doktor Martin Reck. Dass das Medikament bei ihr so gut angeschlagen habe, sei außergewöhnlich. "Es ist eine Sensation, dass sie hier heute so sitzt", sagt er und blickt mit einem Lächeln zu seiner Patientin hinüber. Ohne die Behandlung mit dem Medikament hätte Elke Ehlebracht-Spreen eine Lebenserwartung von drei bis vier Monaten gehabt. Wie viel Zeit ihr die Behandlung verschafft, kann aber niemand sagen.

Sie habe gelernt, dass der Tumor zu ihr gehöre. Die Angst vor diesem Feind sei mal mehr, mal weniger präsent. "Manchmal denke ich, ich kann dieses Ungetüm bezwingen. Manchmal, dass ich es niemals schaffen werde." Aber diese absolute Angst - die sei in den Hintergrund gerückt. "Ich habe das Gefühl, mehr Zeit zu haben", sagt sie. Ihrer Stimme ist anzuhören, dass genau das ihr größter Wunsch ist: Zeit.

"Tarceva ist nicht die Wunderpille, mit der wir den Lungenkrebs heilen können", sagt Martin Reck. "Aber sie verschafft den Patienten Lebensqualität und ermöglicht ihnen einen normalen Alltag." Es gibt die Chance, dass eine akut lebensbedrohliche Situation in eine chronische Krankheit umgewandelt werden kann.

Das trifft auch auf Elke Ehlebracht-Spreen zu. "Seit einem Jahr arbeite ich wieder in meinem Beruf als Lehrerin", sagt sie und strahlt. "Ich fahre Fahrrad, spiele Tennis. Verreise mit meinem Mann und genieße es, die frische Luft in der Natur einzuatmen. Ich führe ein ganz normales Leben." Inwieweit das Medikament die Lebenszeit verlängern kann, kann Martin Reck nicht sagen. "Das ist bei jedem Patienten individuell. Entscheidend ist die Lebensqualität, die zurückgewonnen oder erhalten wird. Und dass sich die Betroffenen mit der Krankheit arrangieren." Besonders positive Wirkung zeige das Medikament bei Lungenkrebspatienten, bei denen der epidermale Wachstumsfaktor Rezeptor mutiert ist. "Diese Mutation ist meistens bei Frauen, die Nichtraucherinnen sind, vorzufinden", sagt er.

Der internationale Experte Professor Tony Mok aus Hongkong, der im Krankenhaus Großhansdorf einen Vortrag zum Thema "Update Lungenkarzinom" hielt, hat den Zusammenhang zwischen Mutation und Wirkung neuer Medikamente in einer Studie bewiesen. "Die bahnbrechende Arbeit hat Professor Mok erst vor wenigen Wochen im New England Journal of Medicine, in der Bibel der Ärzte, veröffentlicht", so Reck. "Die individuelle Behandlung von Lungenkrebspatienten etwa durch Tarceva ist ein Quantensprung in der Therapie."

Dass der führende Forscher Tony Mok im Krankenhaus Großhansdorf zu diesem Thema gesprochen habe, sei eine "große Ehre" gewesen. Bei der Veranstaltung sagte Mok: "Wir müssen weg von der Therapie von der Stange und individuell auf den Patienten und seinen Tumor eingehen." Das sei die Richtung für die Zukunft.

Zurzeit leitet Tony Mok eine internationale Studie, an der auch das Krankenhaus Großhansdorf als führendes Zentrum Europas teilnimmt. Dabei steht das Medikament Avastin im Mittelpunkt, das seit 2008 zugelassen ist. Bei dem Wirkstoff Bevacizumab handelt es sich um Antikörper, die dazu führen, dass Blutgefäße abgebaut werden. "Und Krebs kann nur wachsen, wenn er eine Blutversorgung hat", erklärt Martin Reck. "Dass Avastin wirkt, wissen wir. Unklar ist aber noch, warum es bei dem einen mehr und bei dem anderen weniger wirkt." In Großhansdorf nehmen 27 Patienten an der Studie teil. Lungenkrebspatienten, die vermutlich ebenso wie Elke Ehlebracht-Spreen viele Hoffnungen mit einem neuen Medikament verbinden. Vor allem eine Hoffnung: Zeit zu gewinnen.