Fahrlässige Tötung lautet der Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Die Witwe des Opfers kämpft im Ahrensburger Gericht mit den Tränen.

Ahrensburg/Todendorf. Es ist eine einzige schicksalhafte Sekunde, die an einem Montagmorgen im November 2007 auf der B 404 das Todesurteil für den Monteur Dirk W. (40) aus Dassow ist. Weil er mit seinem Peugeot-Transporter exakt in dem Augenblick die Auf- und Abfahrt Todendorf/Sprenge passiert, in dem eben dort der Anhänger eines Milchlasters umstürzt. Direkt vor seine Kühlerhaube. Der Peugeot zerschellt, W. stirbt noch am Unfallort (wir berichteten).

Knapp zwei Jahre später hat dieses tragische Unglück jetzt ein juristisches Nachspiel. Tobias G. (31), der Milch-Fahrer, muss sich vor dem Amtsgericht Ahrensburg wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung verantworten. Er soll, so der Vorwurf von Staatsanwalt Philipp Marioth, in der Auffahrt der Bundesstraße zu schnell gefahren sein, sodass der Anhänger an deren Ende stürzte. Der Zubringer führt an dieser Stelle bergab und durch eine scharfe Rechtskurve mit Haarnadelqualitäten. G.'s Verhängnis?

Er könne das nicht mehr nachvollziehen, sagt G. Er ist ein dürrer Mann, dem der Strickpulli weit über die Oberschenkel reicht. Strähniges dunkelbraunes Haar umrahmt ein blasses Gesicht, gerötete Augen. Ihm gegenüber sitzt die Witwe von Dirk W. und schnäuzt in ihr Taschentuch. Tobias G. kann ihr zunächst nicht ins Gesicht sehen. Später wird er sagen: "Mir tut das Ganze natürlich wahnsinnig leid. Sie haben absolut mein Mitgefühl." Auch er ist den Tränen nahe, doch Mitgefühl haben die Zuschauer, mehrheitlich Angehörige des Unfallopfers, mit ihm nicht.

Es geht zunächst um die Frage, ob der so in sich gekehrte Mann aus Süsel (Kreis Ostholstein) einen Fehler gemacht hat, ob er irgendetwas hätte anders machen können, besser machen müssen. Andreas K. (32), ein Mann wie ein Schrank, hat den Unfall aus dem Führerhaus seines Lastwagens beobachtet. "Ich hab' zu meinem Beifahrer noch gesagt, der ist doch viel zu schnell. Und dann ist der Anhänger schon gekippt", erläutert der Fernfahrer in bester Berliner Mundart. "Ich habe gedacht, der hat aber Tempo drauf", sagt eine andere Zeugin. Ein dritter Zeuge bestätigt das: "Der Anhänger ist dann wie in Zeitlupe auf unsere Fahrbahn gerutscht." Den Zusammenprall mit dem Transporter hat noch eine weitere Zeugin beobachtet. "Alles wird gut", habe sie dem schwer verletzten Dirk W. noch gesagt und ihre Hand auf seine Stirn gelegt.

Doch die Verletzungen seien "nicht mit dem Leben vereinbar" gewesen, protokolliert der Notarzt elf Minuten nach dem Unfall. Vier Minuten später ist Dirk W. tot.

Und Tobias G. kann sich das alles nicht erklären. "Ich habe mich eher an den Geräuschen und der Gangzahl als am Tacho orientiert", sagt er. "Wenn ich zu schnell war, dann höchstens, weil ich den falschen Gang erwischt hatte." Die "Doppel-H-Schaltung" des Mercedes Actros ist offenbar nicht G's Sache gewesen. "Er war beim Fahren immer sehr mit der Technik beschäftigt", sagt seine Anwältin, "er war ja doch mehr oder weniger Berufsanfänger." Es soll eine Art Rechtfertigung sein.

Da deutet sich zaghaft an, dass unterschwellig eine neue Fragestellung in den Mittelpunkt dieses Prozesses rücken könnte: Ist Tobias G. seiner Rolle als Milchwagen-Fahrer überhaupt gewachsen gewesen? Er, der sieben Jahre vor dem Unfall seinen Lkw-Führerschein bei der Bundeswehr gemacht hatte, danach aber nie wieder gefahren war, ehe er im Sommer 2007 bei dem Milch-Fuhrunternehmen anheuerte.

Denn Milchlaster zu fahren ist offenbar schwieriger, als es sich anhören mag. "Haben Sie denn schon mal etwas von Schwerpunkt, Stabilität oder Berechnung der Nutzlasten gehört?", will Steffen Kohl wissen, Anwalt der Witwe. Tobias G. zuckt mit den Achseln. "Na ja", sagt er, "bei der Bundeswehr ist ja nach zentralen Dienstvorschriften gelehrt worden. Ich gehe mal davon aus, dass da auch jemand was von erzählt hat." Aber anfangen könne er mit solchen Begriffen eigentlich nichts. Wusste der Unglücksfahrer, dass es einen Unterschied macht, ob zuerst das Zugfahrzeug oder ob zuerst der Anhänger mit Milch beladen wird? Wusste er, dass 30 000 Liter, in den Tanks erst mal ins Schwappen geraten, ungeahnte Kräfte entfalten können? Hätte er es nicht wissen müssen? Diese Fragen interessieren im Saal.

Volker Tiedemann, von der Staatsanwaltschaft bestellter Gutachter, sagt: "Die Kippgrenze bei so einem Lastwagen liegt in solch einer engen Kurve schon bei 30 bis 40 Kilometern pro Stunde." Der Fahrer des Zugfahrzeugs bekomme allerdings erst mit, dass der Anhänger aus der Bahn laufe, "wenn der sich zur Seite neigt". "Dann ist es einfach schon zu spät. Man kann nicht mehr reagieren. Die Frage ist deshalb: Wie erfahren muss man sein, um so etwas verhindern zu können? Wie geht man an so eine Kurve heran?"

Tobias G. erklärt, dass er bei dieser Kurve vom ersten Tag an Probleme gehabt habe, "den richtigen Einschlagzeitpunkt zu finden". Er, der bei der Bundeswehr ein einziges Mal mit Ladung gefahren sei. "Das waren Schlauchboote."

Knapp ein Jahr lang hat er noch Milch gefahren, seit Oktober 2008 ist G. in psychiatrischer Behandlung und krankgeschrieben.

Plädoyers und Urteil werden für kommenden Mittwoch ab 9.30 Uhr erwartet.