Wilhelm Brinkmann von der Universität Kiel eröffnet die neunten Stormarner Kindertage im Reinbeker Schloss mit einem eindringlichen Vortrag. Kinder würden zu oft “abgeschoben“.

Reinbek. "Kinder finden in unserer Gesellschaft kaum noch Beachtung. Sie werden oft an Pädagogen abgeschoben, weil viele Eltern heutzutage die Verantwortung der Erziehung nicht mehr übernehmen wollen." Mit diesen schonungslosen Thesen hat Professor Wilhelm Brinkmann von der Universität Kiel bei der Auftaktveranstaltung zu den neunten Stormarner Kindertagen an die Städte und Gemeinden in Stormarn appelliert, mehr für die Kinder zu tun. Bei einem Vortrag im Reinbeker Schloss sagte Brinkmann: "Es gibt deutschlandweit kaum noch öffentliche Spielmöglichkeiten für Kinder." In der Städteplanung würden Kinder nicht mehr berücksichtigt, beklagt der 62 Jahre alte Professor. Sein Appell an Eltern und Lehrer: "Behütet die Kinder nicht über, aber schenkt ihnen mehr Beachtung."

"Kinderfreundlich? Kinderfeindlich? Zur sozialen Lage der Kinder in der gegenwärtigen Gesellschaft", so das Thema des Pädagogik-Professors am Montagabend. "Es ist nicht mehr selbstverständlich, Kind zu sein - geschweige denn, Kinder zu haben." Seine Worte klingen hart, seine Miene ist ernst. "Unsere Gesellschaft ist kindneutral." Stille im Saal. Der Mann fühlt sich berufen. Beschäftigt sich seit Jahren mit diesen und verwandten Themen. Etliche Publikationen zur Pädagogik sind unter seinem Namen verzeichnet.

"Kinder haben keine Freiheiten mehr. Ihr Leben besteht aus Zuhause, Schule oder Kindergarten und dem Weg, der dazwischen liegt", sagt Brinkmann. Spielen im Freien? Das sei an viel befahrenen Straßen und wegen hoher Kriminalitätsraten heutzutage vielerorts nicht mehr möglich. Und die Eltern? Viele, so Brinkmann, hätten nicht mehr die nötige Zeit, um "Allein-Unterhalter zu spielen", sagt der Pädagogik-Experte. Und: Immer mehr Eltern übertrügen die Erziehung auf "Professionelle" - Pädagogen, Psychologen und ausgebildete Erzieher, meint Brinkmann. Viele Mütter und Väter hätten Angst, bei der Erziehung Fehler zu machen, drückten sich quasi deshalb darum.

Das alles bleibe nicht ohne Folgen. Brinkmann: "Kinder bekommen heute so wenig Aufmerksamkeit, dass sie sich diese anderswo suchen." Im Gespräch mit dieser Zeitung sagte er, dabei fielen ihm zum Beispiel Gewalttaten wie die in München ein.

Der Pädagogik-Professor kritisiert ferner, dass die Wirtschaft gezielt das Konsumverhalten von Kindern und Jugendlichen beeinflusse. Insbesondere im Fernsehen. Und dabei ausnutze, dass die jungen Menschen nach etwas suchen, das sie sich selbst aussuchen wollen.

Und die Rolle der Eltern? Es gebe Mütter und Väter, die es glücklich mache, "Kinder zu besitzen". Die Kinder seien zu "Zentralfiguren" in Familien geworden, dazu da, dass die Eltern Glückseligkeit erlangten. Und die Gesellschaft? "Die meckert, wenn das Kind im Supermarkt anfängt zu schreien." Und das nenne sich dann Kinderfreundlichkeit. Da sei es nicht verwunderlich, dass die Geburtenrate in Deutschland drastisch sinke. Brinkmann weiter: "Geschwister werden zu einer aussterbenden Spezies." Schließlich habe eine Familie in Deutschland heute im Schnitt nur noch 1,4 Kinder.

Wenn die Situation so dramatisch ist wie von Brinkmann geschildert, wie will Stormarn dann das selbst gesteckte Ziel erreichen, kinderfreundlichster Kreis in Deutschland zu werden? "Die Situation ist gar nicht so dramatisch", sagt Christa Zeuke, Kreispräsidentin und Schirmherrin der neunten Stormarner Kindertage, zu den Thesen von Professor Brinkmann. Die Eltern müssten jedoch darauf achten, ihre Kinder nicht überzubehüten. Vielmehr müssten sie ihnen ihre Freiräume lassen. Mütter und Väter sollten sich von dem Gedanken lösen, immer alles perfekt machen zu wollen, jedes Freizeitangebot in den Stundenplan ihrer Kinder "quetschen" zu wollen.

Um das richtige Maß zu finden, bietet der Kinderschutzbund während der Kindertage Info-Veranstaltungen an. "Genau das ist ein Schritt in die richtige Richtung", sagt Alexander Witsch vom Kinderschutzbund. Sich beraten zu lassen, um die Furcht vor Erziehung zu verlieren. "Vor allem alleinerziehende Mütter sind oft überfordert, weil sie Beruf und Kind unter einen Hut bekommen müssen - und dann alles hundertprozentig richtig machen wollen", sagt Witsch. Und ergänzt: "Kinder müssen auch mal allein im Sandkasten spielen dürfen, ohne dass Eltern Angst haben, sie könnten Dreck in den Mund bekommen."