Vernachlässigung von Kindern - im Süden Stormarns Zunahme registriert. Die Bürger sind jetzt aufmerksamer.

Reinbek. Vernachlässigte Kinder sind kein reines Großstadt-Phänomen. "Das gibt es auch bei uns hier", sagt Richter Bernd Wrobel vom Amtsgericht Reinbek. Das Gericht führt zwar keine Statistik, aber der Richter hat in seinem Arbeitsalltag erlebt, dass diese Fälle in Südstormarn sogar zugenommen haben. Auch gebe es deutlich mehr Anzeigen wegen Vernachlässigung als noch vor einigen Jahren. Er sagt: "Die Sensibilität hat zugenommen."

Die Bürger seien durch Medienberichte, wie die über die gestorbene Jessica aus Hamburg, auf das Problem aufmerksam geworden. Die Siebenjährige war zu Hause verhungert. Bei Bernd Wrobel landen erschütternde Fälle. Hinter den meisten verbirgt sich ein kompliziertes Familiengefüge. Wie bei der neunjährigen Jasmin aus Glinde, auf die das Jugendamt aufmerksam wurde. "Sie musste zu Hause kochen, putzen, einkaufen, während die Mutter betrunken in der Ecke lag", sagt Wrobel. Als das Mädchen zu ihm kam, habe sie den moralischen Reifegrad einer 15-Jährigen gehabt. "Das ist einfach viel zu viel Verantwortung für eine Neunjährige." Er berichtet auch von einem anderen Fall: Zwei Brüder, vier und sieben Jahre alt, die mit ihren Eltern ebenfalls in Glinde wohnten. Während die Erwachsenen nachts laute Partys feierten und reichlich Wodka floss, hätten die Jungen in der unzureichend möblierten Wohnung gesessen und Gameboy gespielt. "Das war ihr einziges Spielzeug", berichtet Wrobel. Das Jugendamt informierte ihn und Eltern und Kinder wurden von dem Richter angehört.

"Die Anhörung der Erwachsenen mache ich immer hier in meinem Büro, aber mit den Kindern gehe ich lieber ein bisschen spazieren oder auf einen Spielplatz", sagt Wrobel. Für die Kinder sei es so oft einfacher, über ihre Probleme zu reden. "Häufig drängen sie geradezu darauf, einem Dritten ihren Sack voller Sorgen auszuschütten." Nachdem er auch im Fall der vernachlässigten Brüder alle Seiten angehört hatte, ordnete der Richter an, dass die alkoholabhängige Mutter sich zur Entgiftung bei einer Suchteinrichtung melden musste. Als dies nicht geschah, wurde den Eltern das Sorgerecht entzogen. Die Brüder kamen ins Oldesloer Kinder- und Jugendhaus St. Josef. "Dort kümmern sich nun Ordensschwestern und andere Sozialpädagogen um sie", sagt der Richter. Den Eltern das Sorgerecht zu entziehen, ist der letzte Schritt. Denn für den Familienrichter gilt stets der Grundsatz, immer das mildeste Mittel zu wählen. Einen Grund für die Zunahme der Vernachlässigungsfälle sieht Wrobel darin, dass vielen Kindern sinnvolle Beschäftigung fehlt. "Wir brauchen Einrichtungen, in denen schon kleine Kinder aufgefangen werden und auch nachmittags gut betreut werden", sagt er. Zudem sollte es mehr Sozialarbeiter geben, die sich um Kinder und Jugendliche kümmern. Wrobel: "Kinder brauchen Begleitung."

Trinkende Eltern, traumatische Erfahrungen, fehlende Freizeitmöglichkeiten - wenn Kinder vernachlässigt werden, spielen viele Faktoren eine Rolle. "Das ist ein weites Feld mit vielgestaltigen Fällen", sagt Bernd Wrobel. Er entscheidet, wie geholfen werden soll. Ob den Eltern das Sorgerecht entzogen wird oder sie eine Therapie machen sollen, das Kind in ein Heim geht, von Verwandten betreut wird oder weiter bei den Eltern wohnen kann. Das sei nicht immer leicht, sagt der Richter: "Wir haben gesetzliche Vorgaben, welche Maßnahmen möglich sind. Aber in jedem Fall muss ich neu einschätzen, was für das Kind das Beste ist." In seinen Gesprächen erfährt der Richter vieles, was ein Kind nicht erleben sollte: "Ich sehe häufig nur die Spitze des Eisberges - und das ist schlimm genug."