Abendblatt-Reporterin Lena Thiele hat sich auf die 45 Kilometer lange Strecke gemacht und Menschen besucht, die am Rand der Hauptverkehrsader wohnen und arbeiten.

Sie schlängelt sich von Lübeck nach Hamburg einmal durch Stormarn, die Bundesstraße 75. Wer sie entlangfährt, an grünen Wiesen, roten Klinkerhäusern und gelben Tankstellen vorbei, trifft auf unterschiedlichste Menschen. Sie alle wohnen oder arbeiten an der B 75. Und haben sich arrangiert mit der Straße, die Freunde und ganze Orte trennt, als Rennstrecke benutzt wird, für viele Geschäfte Kunden bringt - und doch alle Menschen miteinander verbindet.

Kurz hinter Lübeck, der Stein mit dem Stormarn-Wappen ist kaum passiert, geht es links eine steile Auffahrt hinunter. Auf einem Hoftor ist in blauer Farbe "Trave Reithof" aufgepinselt. "Die B 75 ist kostenlose Werbung für den Hof", sagt Besitzerin Nadine Graff, die in grauen Reithosen aus ihrem Büro im oberen Stockwerk kommt. Die 26-jährige Reitlehrerin betreibt den Hof in Hamberge seit zwei Jahren. Ihre acht eigenen und 26 weitere Pferde sind auf dem Hof untergebracht. "Ich verwirkliche hier mein Ideal von Pferdehaltung", sagt die sportliche junge Frau, die Steuerfachangestellte gelernt und Jura studiert hat, bevor sie auch ihr Berufsleben den Pferden widmete. Wie ihr Ideal aussehe? Vor allem viel Auslauf, die Pferde seien den ganzen Tag auf der Koppel.

Überhaupt habe sie den 1933 erbauten Hof vor allem wegen des Grundstücks gekauft. "Hier hinten bekommt man von der Straße überhaupt nichts mit." Nadine Graff läuft mit schnellen Schritten über die grünen Koppeln, die sich hinter dem Haus über kleine Hügel erstrecken. Ihr blonder Pferdeschwanz wippt schwungvoll mit. Die Tiere grasen zufrieden in der Sonne, einige stehen im Schatten unter zwei alten Eichen.

Zurück auf der anderen Seite des Hofgebäudes das Kontrastprogramm: Autos und Motorräder rasen an der Auffahrt vorbei - deutlich schneller als mit den erlaubten 70 Kilometern pro Stunde. Ein Stück weiter stehen zwei Männer der Stadtwerke Lübeck am Straßenrand, kontrollieren die Lüftung einer Gasleitung. "Schön ist es hier nicht", sagt Rohrnetzbauer Lars Ramminger (29) und wischt sich die Hände an der grauen Latzhose ab. So viel Verkehr. Wohnen würde er nicht gerne an der Straße.

Marco Segendorf schon. Der 33-Jährige hat vor drei Jahren ein Haus im Hamberger Neubaugebiet bezogen. Beworben wird das Areal mit dem Spruch "Wohnen am Travehang". Marco Segendorf wohnt ganz am vorderen Rand, an der Straße. "Das ist einfach praktisch", sagt der Disponent. Von hier aus komme er schnell zur Arbeit nach Hamburg und zum Einkaufen nach Lübeck. Verkehrsgünstig nennt Segendorf die Lage. Aber nicht nur deswegen lebt er gerne in Hamberge. "Hier kenne ich jeden, im Supermarkt werde ich freundlich bedient, und sogar die Jugendlichen grüßen nett."

Der nächste Ort ist Reinfeld. In einer Autowerkstatt baut Ralf Stäcker-Ehlers (42) eine neue Stoßstange an einen blauen VW Golf. Plötzlich ein schrilles Quietschen, offenbar ein bremsendes Auto. "Das höre ich hier andauernd." Er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.

Genau wie Sandra Bäcker im Backshop nebenan. "Hier heißt es immer schnell, schnell, schnell", sagt sie. Vor der Arbeit seien die Kunden in Eile, wollten nur eben ein belegtes Brötchen mitnehmen - am liebsten mit Käse oder Salami. "Hier kaufen alle ein, Büroleute, Polizisten, Notarztwagenfahrer", sagt Bäcker. Die B 75 stört sie nicht. "Die war doch schon immer da."

Und sie verläuft mit leichten Kurven weiter nach Bad Oldesloe. Am linken Straßenrand macht ein Schild der Trave-Fischerei Kneeden-Quell Appetit auf einen Imbiss. Inhaber Thomas Jacobsen kommt gerade in Gummistiefeln vom Mittagessen. Sein Lieblingsgericht: Wildlachsfilet mit Reis und Hummersoße. "Es muss Pfiff haben." Der 41-Jährige führt den Betrieb, der 1482 als Flussfischerei gegründet wurde, seit 19 Jahren. Früher war er Koch, später Fischer.

"Dann bin ich hier gestrandet", erzählt der drahtige Mann im blau-weiß gestreiften Fischerhemd, während er mit festem Griff einen zappelnden Vier-Kilo-Fisch - "die Frauen zicken immer rum" - aus einem Wasserbecken holt. "Qualität ist das Wichtigste", sagt Thomas Jacobsen. Zufriedene Kunden kauften auch in knappen Zeiten frischen Fisch.

Und wenn eine Förderung vom Staat lockt, hält die Krise auch nicht vom Autokauf ab. Besonders Kleinwagen gingen gut, berichtet Werner Blohm. Der junge Mann mit den blonden Strähnen im Haar verkauft die glänzenden Autos zwischen zahlreichen Grünpflanzen. Sein ganzes Leben wohnt Werner Blohm schon an der B 75, wo sein Vater in den 50ern das Autohaus eröffnete. Seine Frau Gesa leitet den Verkauf. "Aber bald lege ich eine Pause ein", sagt die 27-Jährige und deutet auf ihren leicht gewölbten Bauch. Die Straße sei manchmal ein echtes Nadelöhr. Vor allem im Sommer, wenn die Menschen an die Ostsee wollten. "Wir fahren lieber abends, wenn alle anderen in die Gegenrichtung drängen."

Dann durchquert die B 75 die Kreisstadt. In einem blauen Haus an einer Kreuzung wohnt Cornelia Groß. Eine Mauer schirmt den Garten von der Straße ab. "Einmal lag ein Motorradfahrer bei uns auf der Terrasse", erzählt die Apothekerin. Da musste die Mauer her.

Am Ortsausgang liegt der Blumenladen von Günter Hugo. "Das ist optimal fürs Gewerbe", sagt der Gärtner. Vor allem kämen Leute - er meint Hamburger - vorbei, die Geld hätten. Genug Geld für seltene Pflanzen, die 500 oder 600 Euro kosten. Alle drei Wochen fährt der Blumenhändler nach Holland zur "Uhr", wie er sagt. Von der Pflanzenversteigerung bringt er frische Ware mit, die möglichst schnell verkauft werden muss. "Aber wer was bewegen will, muss Risiken eingehen", ist Hugo überzeugt.

Nach einigen weiteren Kilometern durch Blumenwiesen und Kornfelder erreicht die Trasse Elmenhorst. "Die Straße trennt das Dorf", sagt Henning Fründ, der hier aufgewachsen ist. Freundschaften entstünden nur auf jeweils einer Seite der Straße. Der ehemalige Pastor und gelernte Tischler verkauft wetterfeste Skulpturen und Deko-Objekte. Bei naturtrübem Apfelsaft - serviert auf einem steinernen Tisch zwischen griechischen Göttern, brüllenden Löwen und geschwungenen Vasen - erzählt er, dass am Tag zuvor drei Kunden gekommen seien. Zweien habe er vom Kauf abgeraten. "Ich bin einfach kein Geschäftsmann", sagt er. Das beunruhige ihn aber nicht. Die Skulpturen stünden oft jahrelang auf dem Gelände, bevor sie jemand kaufe. Manchmal entdecke er auch selbst vergessene Objekte wieder, erzählt Fründ.

Früher sei auf dem Grundstück eine Meierei gewesen. "Unten an der Straße haben die gekühlte Buttermilch verkauft." Heute steht niemand mehr am Straßenrand. Nur Autos rauschen vorbei, weiter in Richtung Bargteheide. Dort ist Markttag. In seinem gelb überdachten Stand verkauf Rüdiger Foldt Tee, Gewürze, Kräuter und selbst gebackenen Vollwertkuchen. "Hier ist es schön lebendig", sagt er, während er einige Preisschilder zurechtrückt. Zwei Kundinnen begutachten den Mohn-Apfel-Kuchen. Rosemarie Bäumer kauft schließlich eine Tüte getrocknetes Mischobst. "So etwas findet man sonst nicht", sagt sie.

Auf der anderen Straßenseite steht Hasan Ay in seinem Laden Pascha Döner, der direkt an einer Kreuzung liegt. "Wenn Lkw um die Ecke fahren, dann klirren die Scheiben", sagt er und wischt sich die Hände an einem karierten Handtuch ab. Auch Fliesen seien schon zersprungen.

Weiter draußen ist auf der rechten Seite eine kleine Tankstelle. "Wir sind immer einen Cent günstiger als die großen Konzerne", sagt Pächterin Rosmarie Schröder. Besonders montags sei es immer voll an ihren Zapfsäulen. "Da staut sich das bis Timbuktu", sagt die 36-Jährige mit dem offenen Lachen. Manchmal beschwerten sich Kunden über steigende Preise. "Immer freundlich bleiben", sagt die Frau mit den kurzen blonden Haaren, die selbst mit dem Fahrrad zur Arbeit kommt.

Frisch aufgetankt geht es weiter bis nach Delingsdorf. An einer engen Kurve taucht rechts der Erdbeerhof von Enno Glantz auf. Seit fast 50 Jahren wohnt er an der B 75. "Wir leben von der Straße", sagt der Besitzer. Täglich rollten 16 000 Autos vorbei. Auch hier durchschneide die Straße das Dorf, erzählt Glantz. Und dass sie sein Leben beeinflusst habe. Positiv, sagt der 64-Jährige. Viele Stammkunden kaufen bei ihm Himbeeren, Brombeeren, Johannisbeeren und natürlich Erdbeeren. Seine Lieblingssorte: Sonata. "Eine frühe Sorte, sehr mild und schön süß."

Herzhafteres gab es bis vor zwei Jahren kurz vor Ortsende bei Roswitha Springer in der Landschlachterei. Der Laden ist geschlossen, aber sie wohnt noch im Haus nebenan. "Den Vorgarten können wir leider nicht nutzen", sagt sie mit einem Blick auf die Hecke, die das Grün von der Straße trennt. Sie schließt die Lüftung. Der Autolärm bleibt jetzt draußen. Nur nachts zwischen zwei und vier Uhr sei es ruhiger, erzählt sie.

Noch näher an der B 75 wohnt Familie Bapst. Die Straße hat sich bis zum Ahrensburger Schloss und dann einmal um die Stadt herumgewunden. In Wulfdorf lebt seit sieben Jahren Tanja Bapst mit ihrem Mann Jean-Claude und den Söhnen Jean-Pierre (6), Jeremy (4) und Louis (2). Schallschutzfenster wehren den Lärm ab. "Das größere Problem sind die rasenden Autos", sagt die Bankkauffrau. An Tempo 60 hielte sich hier fast keiner. Ihre Kinder fasziniert die Straße. "Wenn abends im Dunkeln die Lichter der Scheinwerfer vorbeiflitzen - das finden die Jungs toll."

Das letzte Stormarner Haus an der B 75 ist der Sengana Erdbeerhof. Im Hofladen gibt es Obst, Gemüse, Wein, Marmelade. "Wir bieten vor allem regionale Produkte an", sagt Chefin Doris Unger. Radfahrer würden auch gerne für eine Weinprobe eine Pause einlegen.

Wer sich wieder in den Sattel schwingt, erreicht nach wenigen Minuten die Stadtgrenze von Hamburg. Stormarn ist hier zu Ende. Die Bundesstraße 75 hat auf den zurückliegenden Kilometern das Leben unterschiedlichster Menschen gekreuzt. Die meisten von ihnen haben sich an ihre Straße gewöhnt. Irgendwie.