Die Geige flirrte und jaulte in den höchsten und tiefsten Tönen. Nein, das war nicht Bach, Beethoven oder Mozart. Das war zeitgenössische Musik, die das Schleswig-Holstein Musik Festival da bot. Richtig harte Kost.

Bargteheide. Geschrieben von Jörg Widmann, der mit seinem Trio nach Bargteheide angereist war und vermutlich auf der Seitenbühne stand und seiner Komposition ebenso lauschte, wie die 350 Zuhörer.

Statt Wohlklang erfüllten schmerzende Dissonanzen das Kleine Theater: metallisch, sphärisch, rau - und total faszinierend. Das Publikum war von dem Geschehen auf der Bühne gefangen und geradezu sprachlos. Kein Tuscheln, kein Husten störte den Vortrag von Henja Semmler, die sich vor drei Notenpulten aufgebaut hatte und dann von links nach rechts zwei Meter aneinander geklebte Notenblätter abzuarbeiten begann. Zu welcher Seite würde das Meinungspendel im Festivalpublikum ausschlagen: grauenvoll oder genial?

Obwohl klar war, dass erst Schluss sein konnte, sobald die Geigerin am letzten Notenblatt rechts außen angekommen war, hielt es einen begeisterten Zuhörer nicht mehr. "Bravo", rief er und begann zu applaudieren. Der Zwischenruf störte, aber er löste die Spannung.

Nun ging es weiter. Henja Semmler absolvierte halsbrecherische Läufe, Doppelgriffe, Triller, Pizzicati und Spiccati. "Etüden" hat Widmann diese Solo-Stücke für Geige genannt, "Übungsstücke". Wer die beherrscht, hat in der Tat geübt. Henja Semmler, die für Carolin Widmann eingesprungen war, hatte allerdings nicht viel Zeit dafür gehabt. In fünf Wochen, die zudem vollgestopft waren mit Konzerten und dem Einstudieren weiterer neuer Stücke, musste sie es schaffen. Und sie schaffte es mit einer Leichtigkeit, die verblüffte, und mit einer Konzentration und Energie, die die Zuhörer auf diese abenteuerliche Klangreise mitnahmen, ob sie wollten oder nicht.

Zum Schluss gab es frenetischen Beifall. Mehrfach kam die Geigerin auf die Bühne und nahm strahlend den Applaus und die Umarmung des Komponisten entgegen. Ein einzelner Buh-Ruf mischte sich in die Beifallsbekundungen. Und ein Zuhörer war während der spannungsgeladenen Viertelstunde moderner Musik rausgegangen. Rein kam er erst nach dem Stück. Er wollte die Künstlerin nicht stören.

Den Respekt vor der Leistung teilten alle an diesem Abend, auch die Kritiker. "Ich fand die Musik schrecklich", sagte Bürgermeister Henning Görtz, "aber das war technisch sehr anspruchsvoll."

"Faszinierend. Ich habe es nur nicht verstanden", fasste Karin Pangels ihren unmittelbaren Eindruck zusammen. Sie war mit ihrem Mann Alfred aus dem Saarland zum Schleswig-Holstein Festival in den Norden angereist. Das Konzert in Bargteheide war eines von vieren, das sie besuchten. Am Schluss war die leichte Ratlosigkeit Begeisterung gewichen. "Es war ein toller Abend", sagte Karin Pangels, der man anmerkte, wie die Musik noch in ihr nachhallte.

Mit Strawinsky und der Kammermusikfassung seiner "Geschichte vom Soldaten" hatte das Konzert begonnen. Auch das war schon kein "Musik-Häppchen" zum schlichten Genießen, genauso wenig wie die Fantasie für Klarinette solo, die Jörg Widmann nach der Pause spielte, und die "Kontraste für Violine, Klarinette und Klavier" von Bartók, die den Abend beschlossen.

"Faszinierend", sagte Schleswig-Holsteins Finanzminister Rainer Wiegard, der sich als Bargteheider das Konzert nicht entgehen lassen wollte. "Wir haben einen konservativen Musikgeschmack", bekannte sein Frau Jutta Werner, "aber es ist gut, dass das Festival moderner Musik eine Chance gibt. Das war ein Ereignis."