Verwaiste Mütter, verwitwete Rentner, Ehefrauen, Kinder - für viele ist die letzte Ruhestätte ihrer Angehörigen ein unverzichtbarer Ort der Begegnung geworden.

Ahrensburg. Pralle, graue Wolken verbünden sich am Himmel zu einer undurchdringlichen Decke. Nieselregen tröpfelt auf das Blätterdach der alten Linden und Eichen. Mächtig und beschützend zugleich wirken die Bäume rund um die Begegnungsstätte auf dem Ahrensburger Friedhof. "Egal ob es regnet, schneit oder die Sonne scheint - hier ist es immer schön. Es ist mein Ort der Ruhe", sagt Gisela S.. Sie nippt an einem Automaten-Cappuccino und lehnt sich in einem dunkelbraunen Gartenstuhl zurück. Sie sitzt an einem der sechs Tische, die parallel zu den großen Fensterfronten stehen. "Ich bin jeden Tag auf dem Friedhof", sagt die Frau in der schwarzen Jacke. Sie bemüht sich zu lächeln. "Ich besuche meine Tochter." Ihr Kind, das vor sieben Jahren starb.

Der Friedhof ist für Gisela S. aber auch der Ort, an dem sie Bekannte und Freunde trifft. Menschen, die sie in der Begegnungsstätte kennen gelernt hat. Mit denen sie reden kann. Ihre Trauer teilt. "Hier ist es einfacher, aufeinander zuzugehen", sagt Gisela S.. Man spüre so eine Art Gleichklang. "Die gemeinsame Trauer verbindet - wie ein unsichtbares Band. Die Menschen kommen auf dem Friedhof automatisch ins Gespräch."

Das erste Jahr nach dem Tod ihrer Tochter sei sie jedoch nicht in der Lage gewesen, sich anderen zu öffnen. "Ich war in einem tiefen schwarzen Loch", sagt sie und ringt um Fassung. "Wenn das eigene Kind vor einem geht - das ist die Hölle", sagt sie. Fast flüsternd. Tränen kullern über ihre Wangen. Sie sucht in ihrem Portemonnaie, legt ein Foto auf den Tisch. "Träume..." steht in großen Buchstaben auf einem hellrosa Grabstein. Der Gedenkstein für ihre Tochter. "Ich gestalte das Grab immer sehr unterschiedlich." Mit verschiedensten Blumenarten. "Denn mein Kind war sehr kreativ", sagt sie und der Stolz eine Mutter schwingt in ihrer Stimme mit. Ein Foto ihrer Tochter trägt sie immer bei sich. Ein Bild einer jungen Frau mit einem hübschen Lächeln und langen blonden Haaren. "Wenn ich sie besuche, fühle ich mich ihr näher, ruhiger." Vermutlich ist der Friedhof auch deshalb der einzige Ort, an dem sich Gisela S. wirklich verstanden fühlt. "Er ist ein Stück Zuhause."

Dazu zähle auch die Friedhofskapelle, in der jeden zweiten Sonnabend im Monat eine Andacht für die Verstorbenen gehalten wird. Schön sei das. "Etwas, worauf ich mich freue", sagt Gisela S.. Seit 2003 arbeitet sie ehrenamtlich in der Begegnungsstätte und deckt die Tische, an denen die Besucher nach der Andacht zusammen Kaffee trinken und Kuchen essen. "Wir sitzen zusammen wie eine große Familie, unterhalten uns nett. Hin und wieder wird auch gelacht."

Peter Betka ist oft dabei. Der 80-Jährige kocht nach der Andacht den Kaffee und Tee, während Gisela S. die Tische hübsch herrichtet. "Wir sind ein gutes Team", sagt er. "Und Duzen uns seit einiger Zeit." Für Außenstehende sei der Friedhof nur ein Friedhof. "Aber für mich ist er ein Teil des Lebens", sagt der rüstige Rentner. Er öffnet die Tür der Begegnungsstätte, blickt in den sich aufhellenden Himmel und marschiert los, vorbei an den alten Grabsteinen. "Hier kennt man sich. Grüßt sich freundlich. Und kommt schnell ins Plaudern." Zu Hause gebe es ja keinen mehr zum sprechen. "Schon seit sechs Jahren nicht mehr." Seit seine Frau tot ist. Jeden Tag ist Peter Betka an ihrem Grab. "Der Spaziergang auf dem Friedhof ist mein tägliches Fitnessprogramm. Hier kenne ich jeden Pfad und jeden Busch." Seine Schritte knirschen auf dem Weg, der vom alten Teil des Friedhofs, entlang der Streuobstwiese zum neuen Friedhof führt. "Ist das nicht schön hier?", fragt Peter Betka. Ja, das ist es. Farbenprächtige Blumen zieren die Gräber. Der Wind rauscht in den Laubbäumen. Vögel zwitschern um die Wette. Ein Paradies ist es trotzdem nicht.

"Wenn ich am Grab meiner Frau stehe, erzähle ich ihr, was es Neues gibt. Wie es unseren Kindern geht. Was ich mit Freunden unternommen habe", sagt Peter Betka. Wiebke habe sie geheißen. Es klingt wie eine Liebeserklärung, wenn er ihren Namen ausspricht. "Können Sie sich vorstellen, 53 Jahre lang mit einem Menschen verheiratet zu sein und ihn dann zu verlieren?", fragt er und gibt im nächsten Moment die Antwort: "Das ist schwer. Sehr schwer." Aber man könne ja nicht nur trauern. Sich nicht nur zu Hause verstecken. "Ich habe gelernt, mit der Trauer umzugehen. Wieder auf Menschen zuzugehen." Zu leben.

Bei Gaby Bartsch und ihrer Tochter Maike ist der Besuch auf dem Friedhof ebenfalls fest im Tagesablauf verankert. "Ich brauch das. Ich muss mich vergewissern, dass bei meinem Mann alles in Ordnung ist", sagt Gaby Bartsch und deutet mit der Hand zu einigen Grabreihen, die von der Holzbank aus zu sehen sind. Hier sitze sie gern, neben dem Wasserbrunnen, an dem die Besucher ihre Gieskannen auffüllen. "Hier bin ich in seiner Nähe", sagt die Frau in dem schwarzen Hosenanzug. An welcher Stelle ihr Mann genau liegt, will sie nicht sagen. Für sie sind es ein paar Quadratmeter, auf denen die Leere nicht so groß sei wie zu Hause. Das empfindet auch Maike Bartsch so: "Manchmal stehe ich wie festgenagelt am Grab und vergesse die Zeit." Alte Geschichten kämen dann hoch. "Welchen Spaß wir zusammen gehabt haben. Wie wir gelacht haben. Geredet." Ein kurzes Lächeln huscht über das Gesicht der 29-Jährigen.

Das Leben sei manchmal einfach nicht fair, sagt Gaby Bartsch. Warum musste er so plötzlich sterben? Diese Frage stelle sie sich jeden Tag. Seit viereinhalb Jahren. "Am kommenden Mittwoch ist es 225 Wochen her, dass er gestorben ist", sagt die 61-Jährige. "Jeden Mittwoch schreibe ich ihm einen Brief - mal viele Seiten lang, mal kürzer." Ihr Tonfall klingt gefasst. Über Persönliches zu reden, fällt ihr schwer. Monika Meinecke, die seit 20 Jahren auf dem Friedhof arbeitet, hat sich von der zurückhaltenden Art der Ahrensburgerin nicht abschrecken lassen. "Sie hat uns beim Kaffee trinken in der Begegnungsstätte mehrmals angesprochen - und dass, obwohl ich recht kurz angebunden gewirkt haben muss. Dafür bin ich ihr bis heute dankbar", sagt Gaby Bartsch. Heute sei Monika eine Freundin. "Sie hat mir geholfen, die Mauer zu durchbrechen."

Auch mit den Menschen in der Begegnungsstätte hat sie Kontakt geknüpft. "Wir besuchen die Andachten und treffen uns hinterher. Das ist immer ein großes Geschnatter, weil jeder etwas zu erzählen hat", sagt sie. Schön sei das. Ein paar Stunden, in denen alle ihre Sorgen für einen kurzen Augenblick vergessen würden. "Hier habe ich auch Frau S. kennen gelernt", sagt sie. "Als sie das erste Mal von ihrer verstorbenen Tochter erzählte, fielen mir sofort Parallelen zu einer meiner Töchter auf: das Alter, die Schule." Es habe sich herausgestellt, dass die beiden Mädchen in derselben Klassenstufe waren und sich kannten. "So gab es sofort eine gewisse Verbindung zwischen uns", erinnert sich Gaby Bartsch. Und vor zwei Jahren habe sie eine alte Schulfreundin nach 50 Jahren wieder getroffen. "Ihr Mann liegt zwei Grabreihen weiter." Obwohl die Freundin in Ahrensburg lebe, seien sie sich nie über den Weg gelaufen. "Jetzt treffen wir uns öfters und klönen", sagt sie. Die Welt sei manchmal schon klein. Stimmt. Auch auf dem Friedhof in Ahrensburg. Dort, wo sich Gisela S., Peter Betka, Gaby und Maike Bartsch ihren Angehörigen näher fühlen. Um sie trauern.

Der Friedhof ist für sie aber auch ein Ort der Begegnungen. An dem sie neue Freundschaften geschlossen haben. Mit Menschen, für die der Friedhof zu einem Stück Zuhause geworden ist.