Kaputte Verhältnisse, Überforderung, Desinteresse: Auch die Stormarner Polizei sieht darin Gründe für Aggressionslust und Alkoholexzesse.

Ahrensburg. Immer mehr Eltern sind mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert, beobachten Experten. Sie sehen darin die Hauptursache für eine Kriminalitätsrate unter Jugendlichen, die seit Jahren auf einem sehr hohen Niveau liegt. Bei der hemmungslosen Gewaltbereitschaft spielen Alkoholexzesse eine ganz entscheidende Rolle (wir berichteten).

"Vielen Jugendlichen fehlen die sozialen Wurzeln", sagt Ulrich Fieber, Richter am Amtsgericht Ahrensburg, "in ihren Familien liegt etwas im Argen." Jürgen Feddern, Jugendsachbearbeiter bei der Polizei in Ahrensburg, sieht das genauso. Er macht das an einer erschreckenden Zahl fest: Nur rund zwei Prozent der Eltern melden sich bei der Polizei, nachdem sie angeschrieben wurden, dass es ein Problem mit ihren Kindern gibt.

Kommt ein Fall dann erst mal vors Gericht, ist das Interesse der Eltern größer. Ungefähr 70 Prozent begleiten den Nachwuchs, sagt Richter Fieber. "Und dann höre ich immer wieder: 'Nun greifen Sie doch mal durch. Bestrafen Sie ihn doch mal richtig'." Der Erziehungsauftrag, so die Beobachtung des Juristen, wandere immer mehr weg von den Eltern, hin zu den Jugendämtern und Gerichten. Habe es früher gereicht, dass der Großvater beim Mittagessen einmal mit der Faust auf den Tisch schlug, gebe es heute niemanden mehr, der so etwas zu tun vermöge. "Wenn ich den kleinen Ausschnitt der Gesellschaft betrachte, in den ich als Jugendrichter Einblick bekomme, muss ich den Eindruck haben, dass heute keine Ehe mehr hält und keine Familie mehr intakt ist", sagt Fieber.

Ungefähr 30 junge Täter bekommt er jeden Monat zu Gesicht. Das seien etwa drei bis fünf mehr als im Durchschnitt der vergangenen Jahre, sagt er. Diese absoluten Fallzahlen seien allerdings eine Momentaufnahme. Sie hängen auch davon ab, wie schnell die Staatsanwaltschaft Anklage erhebe.

Wie berichtet, hat die Polizei in Stormarn von 2007 auf 2008 einen marginalen Anstieg verzeichnet - bei den Körperverletzungsdelikten von Jugendlichen von 395 auf 403 Taten. Bundesweit ist die Zahl allerdings gesunken. Die Körperverletzungen sind es, die den Richter besonders mit Sorge erfüllen. Fieber: "Ich beobachte eine ziemliche Verrohung, und die steht immer im Zusammenhang mit Alkohol. Trinken ist eine Freizeitbeschäftigung geworden, die nichts mehr mit Genuss zu tun hat, sondern mit Abreagieren. Und wenn es früher auch mal zu einer Keilerei gekommen ist, so wird die Schlägerei heute gesucht."

Aus seinen Akten ergibt sich, dass die jungen Schläger bei ihren Taten fast immer zwischen ein und zwei Promille haben. "Und nach dem Alkoholkonsum gefragt, ist 'jedes Wochenende' das Mindeste, das ich zu hören bekommen", sagt er. Auch Polizist Jürgen Feddern sagt, dass immer häufiger Alkoholexzesse der Grund für das aggressive Verhalten Jugendlicher seien. Feddern: "Wenn die Täter in der Vernehmung nüchtern vor mir sitzen, tut es ihnen wirklich leid, was sie getan haben." Richter Fieber ergänzt: "Neulich hat mir ein Intensivtäter gesagt: 'Mensch, Herr Fieber, wenn Sie mir das hier so erklären, ist mir das auch wirklich alles klar. Aber kaum dass ich draußen bin, geht doch wieder was schief'." Wenn die jungen Leute vor ihm sitzen, entweder in einem "Ermahnungsgespräch" in seinem Büro oder im Gerichtssaal - je nachdem, wie schwer die Tat wiegt und wie oft der Täter schon in Erscheinung getreten ist -, sieht er sich manchmal in der Rolle des Vaters oder großen Bruders.

Es sind die Intensivtäter, mit denen er es am häufigsten zu tun hat. In der Polizeistatistik machen sie gerade mal vier Prozent aus, doch sind sie für die überwiegende Zahl der Taten verantwortlich. Vor allem für die Taten, die unter die Haut gehen. Fieber: "Da wird ein junges Mädchen versehentlich angerempelt, sodass es sich Sekt über die Bluse schüttet. Darüber gerät es so in Rage, dass es der Verursacherin sein Knie mit solcher Gewalt ins Gesicht rammt, dass die Frau schwerste Verletzungen erleidet. Oder da werden Jungen gezielt herausgesucht und müssen wie Sandsäcke für die Fausthiebe einer ganzen Gruppe herhalten. Das wird auch gefilmt und ins Internet gestellt."

Jürgen Feddern kennt weitere ähnliche Fälle: "Auf der Skaterbahn in Ahrensburg hat ein 16-Jähriger einem 19-Jährigen, der gerade im Schwitzkasten gehalten wurde, mit voller Wucht ins Gesicht getreten. Es bestand die Gefahr, dass das Opfer sehbehindert bleiben würde. Als ich diesen Fall vorgelegt bekam, da zuckte ich zusammen. Diese Brutalität ist erschreckend." Diese Fälle sind es auch, die den Richter sehr betroffen machen. "Viel betroffener, als wenn jemand mal mit seinem frisierten Roller erwischt wird oder im Kaufhaus eine Kleinigkeit stiehlt", sagt Fieber.

Fahren ohne Führerschein (worunter der frisierte Roller fällt) und Diebstahl sind die häufigsten Straftaten unter Jugendlichen. Körperverletzungen und Raub aber folgen gleich dahinter. Die ersten beiden Delikte sind nach den Worten des Richters Ausdruck dessen, "dass es jugendspezifisch ist, Grenzen zu übertreten und deshalb auch mal mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen". Das hätte auch nichts mit Verrohung zu tun, die Jugendlichen kämen oft aus gutem Milieu. Im Bereich der Intensivtäter bei Körperverletzungen beobachtet er dagegen ein starkes soziales Gefälle. Und der Ausländeranteil liege bei geschätzten 30 bis 40 Prozent.

Ulrich Fieber, in den viele Eltern so hohe Erwartungen setzen, spielt den Ball zurück: "Man muss sich von der Illusion frei machen, dass sich mit dem Jugendstrafrecht alle Probleme lösen lassen." Der Erziehungsauftrag bleibe bei den Eltern.

Polizist Feddern berichtet von einem positiven Beispiel. Es geht um den 16-Jährigen, der dem 19-Jährigen ins Gesicht getreten hat. "Die Mutter rief bei mir an und war sehr bestürzt", sagt Feddern. Und: Sie sei bereit gewesen, selbst etwas zu tun. Heute macht der Junge ein Anti-Aggressionstraining. Feddern: "Leider ist dieses Musterbeispiel eine Ausnahme."