Angeklagter habe eine “nicht näher bezeichnete Störung der Sexualpräferenz“. Rückfallrisiko könne auf gut 15 Prozent gesenkt werden.

Rethwisch/Lübeck

Ein Aufenthalt in einem Therapiezentrum, drei Jahre vielleicht - oder auch fünf. Dort könnte Daniel G. an Gruppensitzungen teilnehmen. Hätte Zeit, über seine Sexualstraftaten nachzudenken. Die Frage bewegen, wie es dazu gekommen ist. Versuchen, seine Gedanken niederzuschreiben. Bekäme Unterstützung dabei, sein Leben für die Zeit nach der Therapie zu ordnen: So kann sich Professor Wolfgang Berner die Zukunft des Serienvergewaltigers vorstellen, der bei Rethwisch auch die neunjährige Sarah V. (Name geändert) missbraucht hat.

Berner, 64 Jahre alt, Psychiater und Psychoanalytiker, seit 1995 Direktor des Instituts für Sexualforschung und forensische Psychiatrie am UKE in Hamburg, gilt als Koryphäe auf seinem Gebiet. Im Prozess, der Daniel G. zurzeit vor dem Landgericht in Lübeck gemacht wird (wir berichteten), hat er gestern sein Gutachten vorgelegt. Darin kommt der Professor zu dem Schluss, dass der Serientäter therapiert werden sollte. Sicherheitsverwahrung, das Wegsperren auf unbestimmte Zeit nach dem Ende einer Haftstrafe - hält er dagegen nicht für angebracht.

In unverwechselbarer Mundart des Wieners, der er ist, berichtet Berner, dass das von ihm kalkulierte Rückfallrisiko bei 33 Prozent fünf Jahre nach Haftende liege. Und davon, "dass man damit rechnen können sollte, dass sich durch eine Therapie die Rückfallquote nochmals halbieren könnte". Helga von Lukowicz, die Vorsitzende Richterin der VII. Großen Strafkammer, wiederholt Berners Worte mit einer gewissen Verblüffung in der Stimme: "Rechnen können sollte, dass es so sein könnte. Aha." Auf Nachfrage erläutert Berner dann, dass er die Rückfallquote anhand von "Basiswerten" errechnet habe, dass der höchste mögliche Wert 40 Prozent betrage, dass 33 Prozent also doch gar nicht so wenig seien.

Berner hat Daniel G. dreimal in der Haftanstalt Lübeck-Lauerhof besucht. Er habe ihn als ansprechend aussehenden jungen Mann kennengelernt, der subdepressiv, also konstant traurig, sei und der kooperativ mitgearbeitet habe. Konstant traurig wirkt Daniel G. auch an diesem Morgen. Den Kopf tief gesenkt, bewegt er sich über Stunden nicht, verzieht keine Miene. Ob er überhaupt wahrnimmt, was der Professor über ihn erzählt, bleibt sein Geheimnis.

Berner kommt auf die 13 angeklagten Sexualstraftaten aus den Jahren 2004 bis 2008 zu sprechen, die er einer "sexuellen Obsession" zuschreibt. Er spricht von einer "nicht näher bezeichneten Störung der Sexualpräferenz", nicht näher bezeichnet deshalb, weil sie keiner der gängigen Muster entspreche.

Daniel G., der sich oft und gern entblößt gezeigt hat, sei kein klassischer Exhibitionist, weil er Kontakt zu den - Berner wörtlich - Objekten seiner exhibitionistischen Handlungen gesucht habe. Vollkommen untypisch für den klassischen Exhibitionisten. Daniel G., der sich mehrfach an Kindern vergangen hat, sei aber auch kein Pädophiler, denn er habe auch erwachsene Frauen missbraucht. Schließlich sei Daniel G., der immer wieder Gewalt gegen seine Opfer angewendet hat, aber auch kein klassischer Sadist. Denn anders als bei einem Sadisten habe die Gewalt nicht dem Lustgewinn gedient.

Der Angeklagte hat im bisherigen Prozessverlauf ausgesagt, seine Taten hätten etwas wahnhaftes gehabt. Berner: "Psychiatrisch gesehen sind sie natürlich nicht wahnhaft, sondern resultieren aus einer Störung des Einfühlungsvermögens." Der Psychiater spricht von einer "narzistischen und antisozialen Persönlichkeitsstörung". "Er sieht nicht, was seine Taten in den Opfern auslösen. Das bekommt er einfach nicht mit. Von anderen darauf aufmerksam gemacht, akzeptiert er es. Aber er spürt es nicht", sagt der Professor. Nach allem bejaht er die volle Schuldfähigkeit des Angeklagten und lehnt eine Einweisung in die Psychiatrie ab.

Als mögliche Auslöser der immer wiederkehrenden Fantasien Daniel G.s, Frauen müssten sich auf offener Straße unverzüglich zu sexuellen Handlungen mit ihm hingezogen fühlen (wir berichteten), sieht Psychiater Berner zwei Erlebnisse in der Jugend des heute 30-Jährigen: Als Elfjähriger habe er ein vorpubertäres Paar beim Geschlechtsverkehr beobachtet, im Alter von 14 Jahren habe er im Videoschrank seines Vaters einen Pornofilm entdeckt und angesehen, in dem auch ein junges Mädchen zu sehen gewesen sein soll.

Während Richterin, Staatsanwältin und Nebenklägervertreter den Bericht zwei Stunden lang kritisch hinterfragen, erklärt G.s Anwalt Ralf Wassermeyer: Ihm komme es nur darauf an, dass sein Mandant nicht in Sicherheitsverwahrung muss.

Der Prozess wird am kommenden Montag fortgesetzt. Nach jetzigem Stand der Planung stehen dann die Plädoyers auf der Tagesordnung.