Kleine Orte als Jagdgebiet: Im Landgericht Lübeck erzählen Mütter, was ihren Töchtern angetan wurde.

Rethwisch/Lübeck

Rethwisch im Kreis Stormarn hat 1072 Einwohner, Ardorf in Ostfriesland 1500 Einwohner, Kreuzkamp im Kreis Ostholstein 438 Einwohner. Daniel G., der in Lübeck wegen Vergewaltigung, sexuellen Missbrauchs von Kindern und Exhibitionismus in 13 Fällen vor Gericht steht und geständig ist, hat für seine Taten ländliche Idyllen bevorzugt. Gestern, am zweiten Verhandlungstag vorm Landgericht, wurde das Muster deutlich, nach dem der 30-jährige Scharbeutzer vorging.

Er suchte seine Opfer da, wo sie sich sicher fühlten, und er machte sich zunutze, dass Hilfsbereitschaft eine Eigenschaft ist, die bei vielen Menschen von kleinauf gefördert wird. Eine Frage nach dem Weg war deshalb meist der harmlose Einstieg des Angeklagten in ein Geschehen, das missbrauchte Kinder und erschütterte Eltern hinterließ.

Mütter sind es vor allem, die an diesem Tag der VII. Großen Strafkammer unter dem Vorsitz der kühl leitenden Richterin Helga von Lukowitz erzählen, was geschah. Zum Beispiel in Kreuzkamp, am 8. Juli 2006, dem ersten Tag der Sommerferien. Bedächtig, unbewegt und gerade deshalb so eindringlich berichtet Martha Z. (43, alle Namen von der Redaktion geändert), dass ihre Tochter (damals 9) nachmittags ins Nachbardorf geradelt sei, nach Grammersdorf, um dort eine Freundin zu besuchen. Sie selbst sei mit ihrem Sohn ins Schwimmbad gefahren. Ihre Tochter sei am Rande der Allee nach Grammersdorf von einem Mann angesprochen worden, der nach dem Weg gefragt habe. Der Mann habe sie dann gezwungen, seinen Penis in den Mund zu nehmen. "Für mich ist das Vergewaltigung, denn meine Tochter hat gesagt, dass sie das nicht will", sagt Martha Z. Nach weiteren Misshandlungen, die hier nicht dargestellt werden sollen, durfte das Mädchen weiterradeln - zur Freundin, nach Grammersdorf. Dort erzählte sie deren Mutter, was der Mann ihr angetan hatte.

"Wie hat Ihre Tochter auf dieses Ereignis reagiert?", fragt die Richterin. "Sie hat zunächst Angstzustände gehabt und Albträume", sagt die Zeugin. "Manchmal rief sie im Schlaf 'Lass das'." Lange Zeit habe ihre Tochter nicht Radfahren mögen. Heute gehe es ihr besser. "Sie ist in einer guten Klasse, in der alle wissen, was ihr geschehen ist", sagt sie.

Luise K. tritt in den Zeugenstand. Knapp fünf Jahre liegt die Attacke auf ihre Tochter zurück. Nun kommt alles wieder hoch. Mühsam kontrolliert sie ihre Stimme. "Meine Tochter kam von ihrer Freundin und war mit dem Rad auf dem Weg nach Hause. Das sind so kleine Sandwege, da durfte sie fahren", sagt sie. Am Wegesrand habe ein Auto gestanden, in dem Auto ein Mann gesessen, der masturbiert habe. Er habe zu der Zehnjährigen gesagt: "Fass mich doch mal an". Als sie weitergeradelt sei, sei er mit dem Auto hinterhergefahren und habe sie in den Graben gedrängt. Er habe versucht, sie an ihrer Jacke festzuhalten, aber sie habe ihm einen Stoß gegeben, so dass er in den Graben gerutscht sei, und sei schnell weitergefahren.

"Meine Tochter hat viel geweint", sagt die Mutter, die nun selber schluchzen muss. "Sie ist dann auch in der Schule sehr schlecht geworden, war oft aggressiv und wollte nicht mehr rausgehen." Ihre Jacke, die fast neue Jacke, in die sich die Hand des Mannes gekrallt hatte, habe sie nie mehr angezogen.

Es sind quälende, verstörende Sätze, die im Saal 163 des Lübecker Landgerichts zu hören sind. Die Anspannung der Zeugen ist mit Händen zu greifen. Der tiefe Seufzer, mit der eine Großmutter aus Neustadt ihre Aussage beendet, dringt mühelos bis auf die Empore des gewiss nicht kleinen Gerichtssaals.

Und der Angeklagte? Er bewegt sich langsam, als sei er sediert. Er krümmt sich auf seinem Stuhl, er fährt sich mit der Hand immer wieder übers Gesicht, das erschreckend bleich ist. Hört er überhaupt zu?

Der Prozess gegen den Mann, der auch gestanden hat, am 3. Juli 2008 ein damals neunjähriges Mädchen in Rethwisch missbraucht zu haben, wird am kommenden Dienstag fortgesetzt.