Abendblatt-Schreibwettbewerb: Leserin Claudia Schmidt erzählt von dem mörderischen Weg zu einer späten Liebe

Anna blickte auf das Hochzeitsfoto. Sie hatte ein cremefarbenes Kostüm getragen. Ein weißes Brautkleid wäre etwas übertrieben gewesen in ihrem Alter. Außergewöhnlich war es allemal, eine Hochzeit mit fünfundsiebzig.

Jetzt war alles anders. Die Mauer war gefallen, ganz Deutschland blickte nach Berlin. Doch auch in ihrem Leben hatte eine besondere Wende stattgefunden.

Dietmar nippte an seinem Kaffee, lächelte. Anna griff nach seiner Hand.

Erst vor neun Monaten war seine Frau Gerlinde überraschend verstorben. Natürlich hatte Dietmar es mit ihr besser getroffen. Sie war schließlich attraktiver und friedlicher, nicht so cholerisch wie Gerlinde.

Er hatte es nicht leicht gehabt. Vielleicht hatte er ihr Gezeter einfach nicht mehr ertragen und nachgeholfen? Welcher Arzt suchte bei dem Tod einer alten Frau schon genau nach Auffälligkeiten?

Dietmar war glücklich. Er hatte Karriere gemacht und war auch mit seiner ersten Frau lange glücklich gewesen. Gerlinde hatte ihn in harten Zeiten gestützt, trotz ihrer schwierigen Art. Das Schicksal hatte ihm nun eine zweite Frau gegönnt. Und Anna war schon immer sehr attraktiv gewesen. Aber damals...

Gerlindes Vater besaß die Firma, in der er sich hocharbeiten konnte. Dann war Gerlinde schwanger geworden, da musste er sie ja ehelichen. Dietmar blickte zu Anna hinüber. Konnte sie...? Nein. Sie hatte sich für ihn interessiert, aber soweit würde sie nicht gehen. Andererseits war sie Apothekerin gewesen, da gab es bestimmt unauffällige Möglichkeiten...

Dietmar liebte sie. Fünfzig Jahre lang hatte sie gewartet und dabei jede Chance genutzt, sich zu offerieren: gut gebaut, der Busen straff und der Po knackig. Anna hatte wahrlich nicht mit ihren Reizen gegeizt. Vergebens. Sie musste auf Ehe und Kinder verzichten.

Als sie noch jung gewesen war, war Dietmar nicht Manns genug gewesen, eine Affäre mit ihr zu beginnen. Unfassbar, bei dem, was sie ihm bieten konnte.

Anna verzauberte ihn immer noch. Es war schwierig gewesen, all die Jahre ihren Avancen zu widerstehen. Er hatte von ihr geträumt, sie begehrt. Aber eine Affäre hätte ihm Gerlinde nicht verziehen. Und schon gar nicht ihr Vater, sein Boss.

Also hatte er gewartet. Und nun waren sie verheiratet. Hatte das Schicksal es so gut mit ihm gemeint? War Gerlinde wirklich eines natürlichen Todes gestorben? Oder hatte Anna ihrem Glück vielleicht doch ein wenig nachgeholfen?

Anna blickte besorgt zu dem Gärtner hinüber, der gerade die verwelkten Blüten eines Busches abschnitt. "Benno sieht nicht gut aus. So blass", sagte sie. "Du hast Recht, Liebes. Aber er hat sowieso ab morgen Urlaub."

Benno Degenhardt trug die verwelkten Blüten in den Müllbehälter. Er wollte noch einmal das morgendliche Ritual des Frühstücks beobachten. Heimlich natürlich, wie es seine Art war. Er war der Unauffällige, den man nicht beachtete.

Nur der Krebs, der hatte ihm Aufmerksamkeit geschenkt. Zu viel sogar. Er würde seine letzten Tage auf Mallorca verbringen. Hier hatte er alles getan, was zu erledigen war. Anna hatte ihn nie geliebt, auch wenn er sie vergötterte. Doch sie liebte Dietmar. Wie hätte er ihr seine Liebe besser beweisen können, als den beiden den Weg zu ebnen?

Er lächelte. Manchmal war der Gärtner eben doch der Mörder...