Leser Hubert Kinzel baute den Vertrieb im Süden der DDR auf

Mir ging's nicht anders, als den meisten Deutschen: Ich war überrascht, sprachlos und gerührt, wie unsere Landsleute das verhasste Regime mit ihrer friedlichen Losung "Wir sind das Volk" wegdemonstriert haben. Ganz Deutschland lebte in diesen Tagen in einem Begeisterungstaumel, Tränen flossen an allen Orten, Tränen der Rührung und der Freude. Mich rührte die Szene, als mein Bruder bei uns das Hamburger Abendblatt liegen sah und es interessiert durchblätterte. "Wann werden wir eure Zeitungen und Zeitschriften bei uns lesen dürfen?", fragte er. "Das liegt an euch", war meine Antwort.

Während sich in den Folgetagen in Ostberlin der Runde Tisch etablierte und politische Kreise sich um die Zukunft ihres Landes Gedanken machten, berieten sich in Hamburg die Spitzengremien der Verlage, wie sie den östlichen Teil Deutschlands mit den westlichen Presseerzeugnissen versorgen könnten. Eine Projektgruppe wurde gebildet, die ein Vertriebskonzept ausarbeitete, das von der neu gebildeten Regierung mitgetragen werden sollte.

Die Verhandlungen zeigten aber bald, dass es kein gemeinschaftliches Modell geben konnte. Wir akzeptierten ein paar Vorgaben, starteten dann aber kurz entschlossen und eigenständig.

Die drei großen Verlagsgruppen hatten sich die Zuständigkeiten aufgeteilt, wobei uns vom Springer-Verlag der gesamte Süden der ehemaligen DDR übertragen wurde.

Wenn die Verhandlungen vorher schon schwierig gewesen waren. Jetzt begannen für uns die richtigen Probleme. "Sie wissen selbst, was sie zu tun und wie sie vorzugehen haben", sagte damals der Vorstand des Verlages zu mir und wünschte mir und meinem Team viel Glück - und natürlich auf jeden Fall Erfolg!

Nur ein Konzept hatten wir im Kopf - sonst nichts: Es gab kein Händlernetz, das wir hätten beliefern können, keine Spediteure, die wir mit dem Transport hätten beauftragen können, keine Hallen, in denen wir die Presseerzeugnisse hätten lagern und umschlagen können. Und anfänglich gab es leider auch keine Mitarbeiter, die uns hätten unterstützen können. Dennoch waren wir hochmotiviert, weil die Menschen auf unsere Zeitungen und Zeitschriften mit Ungeduld warteten. Man riss sie uns förmlich aus den Händen, obwohl wir uns genierten, die hohen Preise zu fordern: Die DDR-Regierung hatte darauf bestanden, dass wir zum Schutz ihrer eigenen Presse, den dreifachen Preis in Ost-Mark verlangen.

Wir improvisierten auf allen Ebenen, kämpften gegen Widrigkeiten und auch mit heimtückischen Anschlägen, ließen uns aber nicht entmutigen. Unsere Erlebnisse würden Seiten füllen, die diesen Rahmen sprengen.

Ende November 1990 - zwölf Monate nach dem Mauerfall - hatten wir unseren Auftrag erledigt. Sechs neu gegründete Grossofirmen übernahmen in eigenen Betriebsstätten, mit einer inzwischen gut ausgebildeten Mannschaft, unsere Arbeit. Wir konnten wieder nach Hause.

Wir haben noch immer reichlich Gesprächsstoff, wenn ich mich heute mit meinen ehemaligen Kollegen treffe. Irgendwie sind wir auch ein bisschen stolz, etwas bewirkt und dazu beigetragen zu haben, dass unsere Zeitungen und Zeitschriften überall in Deutschland erhältlich sind.

Hubert Kinzel, 71, aus Ahrensburg arbeitete für den Springer-Verlag