Morgen ist Welt-MS-Tag. Die 51 Jahre alte Trittauerin Doris Schreiber hat ihren Weg gefunden, mit der chronischen Krankheit zu leben

Trittau. Es begann mit Zuckungen im linken Fuß. Und dann diese bleierne Müdigkeit. Doris Schreiber schiebt das zunächst noch auf die gerade überstandene Virusinfektion. Bis sie beim Einkaufsbummel stürzt. "Ich stand an einem Kleiderständer, wollte weiter. Mein rechtes Bein ging auch los, mein linkes blieb einfach stehen", sagt die 51-Jährige. Der Hausarzt schickt sie zum Orthopäden, der überweist sie an einen Neurologen. Die vielfältigen Beschwerden, unter denen sie da schon leidet, münden in eine Diagnose: Multiple Sklerose, kurz MS.

Ihre linke Körperhälfte ist betroffen: Das Bein ist gefühllos, Dinge fallen ihr aus der Hand, der Sehnerv im linken Auge ist entzündet. Außerdem leidet Doris Schreiber unter sichtbaren Gleichgewichtsstörungen. Es ist der erste schlimme Schub. Sie ist 46 Jahre alt. "Ein eher untypisches Alter", sagt sie. "Meistens beginnt die Erkrankung zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr."

Multiple Sklerose ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems. Sie löst bei den Betroffenen die unterschiedlichsten Beschwerden aus und verläuft bei jedem auch anders. "Nicht umsonst wird MS auch die Krankheit mit den 1000 Gesichtern genannt", sagt Doris Schreiber.

Sie leidet an einer aggressiven Form, hat im ersten Jahr immer neue Symptome. Schluckbeschwerden, eine verwaschene Aussprache. "Da ist man schon mal verzweifelt", sagt sie. Ihr Arzt verordnet ihr eine dreijährige Chemotherapie. Sie erklärt ihren Nachbarn, warum sie beim Gehen schwankt, so als wäre sie betrunken. "Besser man geht offen mit der Krankheit um, als dass die Menschen denken, dass man schon vormittags zur Flasche greift", sagt sie.

Die Therapie hilft. Nach anderthalb Jahre ist sie "fit wie ein Turnschuh", nimmt keine Medikamente, genießt die "besten Jahre in der MS-Zeit".

Doch Rückschläge bleiben ihr nicht erspart. Sie muss ihren Job als Sozialpädagogin im Ahrensburger Jugendamt aufgeben. Ihre Psyche hält dem Stress nicht mehr stand. "Alles stürzte auf mich ein. Nebengeräusche konnte ich nicht mehr rausfiltern. Ich dachte, ich werde irre. Alles geht dann quer im Kopf. Das ist sehr anstrengend." Konzentrationsstörungen machen ihr zu schaffen, die Sehkraft ist eingeschränkt.

"Das Besondere an MS ist, dass man sich immer wieder an neue Krankheitssituationen anpassen muss. Dass man zwischenzeitlich immer mal wieder fit und dann wieder so richtig schlecht drauf sein kann. Nichts ist vorhersehbar und das kann einen sehr verunsichern." Wegen der Augenprobleme kann sie nicht mehr lange lesen. Also besorgt sie sich Hörbücher. Bald kann sie nur noch ab und zu Auto fahren. Sie bekommt ein Behindertendreirad mit Motor. Ihr Ehemann und die zwei erwachsenen Töchter teilen sich den Fahrdienst. Ihre Fürsorge haben die Familienangehörigen auf das Maß zurückgeschraubt, das Doris Schreiber ihren Alltag weitgehend selbstständig und eigenverantwortlich gestalten lässt. Das war ein Lernprozess für alle vier. Anfangs wollte die Familie ihr alles abnehmen. "Heute wissen sie, dass ich um Hilfe rufe, wenn ich sie brauche."

Doris Schreiber lernt auch, auf ihren Körper zu hören. Sie gönnt sich täglich eine Stunde Ruhe. "Meine Koch-Show-Pause", nennt sie das, weil sie dann TV-Kochsendungen guckt. "Etwas anderes kriege ich dann sowieso nicht gebacken. Da kann ich mich auch gleich hinlegen." Sie setzt sich Ziele, auf die sie hinarbeitet. Die Urlaube in Kanada 2009 und voriges Jahr bei ihrer Schwester in Namibia waren welche. Nach Afrika ist die ganze Familie mitgefahren, auch die drei Enkel waren dabei. "Es ging mir richtig gut. Da konnte ich auch laufen", sagt Doris Schreiber.

Zu Hause steht seit kurzem eine Unterarmstütze im Flur. Noch braucht sie die eher selten. Dass sie irgendwann vielleicht im Rollstuhl landen wird, macht ihr nicht mehr so viel Angst. "Auch dann ist nichts zu Ende. Auch dann geht das Leben weiter", sagt sie. Sie schiebt nichts mehr auf die lange Bank, erlebt die guten Tage viel bewusster und freut sich über das, was sie noch kann. Im Garten das Unkraut jäten zum Beispiel oder mit den Enkeln spielen. Sie hat ihnen von Anfang an von ihrer Krankheit erzählt. "Die drei gehen ganz toll damit um. Sie freuen sich, wenn ich wieder etwas kann, was vorübergehend nicht ging."

Doris Schreiber hat gelernt, mit ihrer Krankheit zu leben. Manchmal aber ist sie richtig sauer und deprimiert, weil jeder Tag sie vor eine neue Herausforderung stellen kann. Weil ein guter Tag keine Garantie dafür bietet, dass der folgende auch super wird. "Da ist man schon down, verärgert, weil man doch etwas ganz anderes geplant hatte, als durch die Gegend zu taumeln." Dann positiv zu denken, die Zähne zusammenbeißen, das kostet Kraft. Aber: "Aufgeben? Gibt's nicht! Jeder muss seinen Weg finden, mit der Krankheit umzugehen." Für sie heißt das Gartenarbeit, Yoga, regelmäßig Krankengymnastik und die Selbsthilfegruppe, die sie vor drei Jahren in Trittau gegründet hat. "Wir lachen viel, machen Gedächtnistraining und jährlich einen Ausflug."