Claudia Berner wurde Missbrauchsopfer des Ahrensburger Pastors Dieter Kohl. Im Interview mit dem Abendblatt spricht sie über ihr Martyrium.

Ahrensburg. Sie beförderte den bislang größten Missbrauchsskandal der evangelischen Kirche ans Tageslicht - und wartet noch immer auf ein Ende des Schweigens in Ahrensburg. Claudia Berner (Name geändert) wurde vor dreißig Jahren vom ehemaligen Ahrensburger Geistlichen Dieter Kohl sexuell missbraucht. Er verging sich bis Mitte der 80er-Jahre an weiteren Jungen und Mädchen der Gemeinde Kirchsaal Hagen. Als Berner sich 1999 der damaligen Stormarner Pröpstin Heide Emse offenbarte, wurde der Pastor lediglich versetzt. Bis 2003 unterrichtete er weiter als Religionslehrer an der Ahrensburger Stormarnschule.

Erst als sich die heute 47-Jährige im März vergangenen Jahres erneut an die Kirche wendete, begannen Ermittlungen. Kohl bekannte öffentlich seine Schuld und quittierte Ende 2010 den Dienst. Seinem damaligen Kollegen Friedrich H. werden sexuelle Übergriffe auf zwei 17 und 18 Jahre alte Mädchen Mitte der 80er-Jahre zur Last gelegt. Und gegen Heide Emse laufen Vorermittlungen im Nordelbischen Kirchenamt hinsichtlich ihres Vorgehens im Jahr 1999. "Aus dem externen Gutachten, das wir erwarten, ergibt sich, ob auch gegen Heide Emse ein kircheninternes Ermittlungsverfahren eingeleitet wird", sagt Norbert Radzanowski, Sprecher der Nordelbischen Kirche.

Hamburger Abendblatt: Warum wandten Sie sich erst 1999 an die Kirche?

Claudia Berner: Ich hatte die Geschehnisse der 70er- und 80er-Jahre verdrängt. Ich hätte damals Anzeige erstatten können, aber ich hatte keinen Bezug zu dem, was mir widerfahren war. Erst, als ich für meinen Beruf eine therapeutische Zusatzausbildung machte, kam alles wieder hoch.

Wer erfuhr außer der damaligen Pröpstin Emse 1999 von Ihrem Missbrauch?

Berner: Enge Freunde wussten davon. Auch meine Schwester, die die damalige Bischöfin Maria Jepsen während eines Kongresses auf meinen Missbrauch und den weiterer Jugendlicher ansprach. Eine Haushaltshilfe im Pastorat wusste davon. Ein engagiertes Ehepaar der Gemeinde, dem ich mich selbst offenbarte. Und es wussten sicher noch mehr. Doch im Ahrensburger Kirchenvorstand gab es damals eine Mauer des Schweigens, des Verdrängens, des Verleugnens. Meine Mutter wurde 1999 von einer Frau angesprochen. Sie sei froh, dass Kohl endlich weg sei. Er habe ihren Sohn in den 70er-Jahren missbraucht.

Wie verlief das Gespräch im Sommer 1999 mit der damaligen Pröpstin und Dieter Kohl, zu dem Emse Sie einlud?

Berner: Heide Emse forderte mich auf, die Vorwürfe zu wiederholen. Ich habe sämtliche Namen der Opfer aufgezählt, zu denen ich telefonisch Kontakt aufgenommen hatte, um mir die Erlaubnis für die Namensnennung einzuholen. Außer mir waren es noch sieben weitere, darunter ein Mädchen. Zwei Opfer waren zu diesem Zeitpunkt schon verstorben. Meines Wissens hatte Frau Emse zu diesen Opfern keinen Kontakt aufgenommen. Ich sagte zu Kohl: "Ich leide darunter. Was hast du getan?" Er antwortete: "Es ist alles wahr, was du sagst, außer in einem Fall. Mit den meisten habe ich Gespräche geführt und für die war das alles nicht so schlimm. Sie haben mir verziehen." Emse reagierte sehr betroffen. Sie wollte dafür sorgen, dass Kohl nie wieder mit Jugendlichen zusammen arbeitet. Ich war dann damit einverstanden, Kohl lediglich zu versetzen. Emse sagte, Kohl sei ein armer, alter, kranker Mann, dessen Leben man nicht kaputt machen dürfe.

Wie alt waren die Opfer, von denen Sie eingangs sprachen?

Berner: Die meisten zwischen 14 und 18 Jahre. Als ich 14 war, begannen für mich die sexuellen Übergriffe Kohls.

Inwieweit hat sich Pastor Friedrich H. aus Ihrer Sicht schuldig gemacht?

Berner: Uns, den Opfern, gegenüber machte er sich schuldig, weil er nicht angemessen reagierte. Spätestens seit Mitte der 80er-Jahre wusste er von mir. Damals sagte er, so jemanden wie dich wollen wir in Ahrensburg nicht haben.

Was hat Sie dazu bewogen, im März 2010 einen offenen Brief an die damalige Hamburger Bischöfin Maria Jepsen und Bischof Ulrich zu schicken?

Berner: Vieles, was ich verdrängt hatte, kam durch die Berichterstattung in mir wieder hoch. Ich wollte, dass die Kirche das nicht wieder unter den Tisch kehrt.

Was erwarten Sie von den amtierenden Pastoren vor Ort?

Berner: Dass sie die Situation aushalten, den damit verbundenen Schmerz. Dass sie sich eingestehen, versagt zu haben und die volle Verantwortung für ihre Gemeinde übernehmen. Das heißt auch, dass sie sich nicht zu Opfern des Kirchenamtes machen lassen.

Wie hat sich das, was Ihnen durch Dieter Kohl widerfuhr, auf Ihr Leben ausgewirkt?

Berner: Ich habe eine Entwürdigung erlebt. Meine Sexualität ist zutiefst verletzt. Damit zu leben, ist nicht einfach.

Wie bewerten Sie das Entschuldigungsschreiben, das Dieter Kohl im Dezember an einige Opfer schickte?

Berner: Das hat mich unangenehm berührt, auch das Siezen. Da war nichts Persönliches. Für mich war das keine echte Entschuldigung.

Wie beurteilen Sie den Umgang der Kirche mit den Missbrauchsfällen?

Berner: Die Kirchenleitung gibt ein schwaches Bild ab. Es herrscht zwar große Betroffenheit, aber mir fehlt ein eindeutiges Bekenntnis zur Verantwortung, auch in ihrer Funktion als Arbeitgeber den amtierenden Pastoren und den Tätern gegenüber. Die Kirche ließ Dieter Kohl damals gewähren. Bischof Ulrich schrieb mir nach dem Buß- und Bettag einen Brief, in dem er sich bei mir entschuldigte und bedankte. Er sagte, die Kirche würde die Verfahren gegen Pastor H. und Heide Emse mit derselben Objektivität und Intensität führen, wie sie es bei Kohl getan habe. Ich wünsche mir das sehr - mit einem klaren, entschleierten Ergebnis. In der Kirchengemeinde Ahrensburg müssen sich einige fragen, was sie 1999 gewusst haben. Bei allem spüre ich eine gewisse Hilflosigkeit und den Wunsch, sich der eigenen Verantwortung und dem damit verbundenen Schmerz zu entziehen. Die Entweihung der Kanzel im Kirchsaal Hagen ist für mich eine überzogene Aktion. Vielleicht hätte sie mit einem rituellen Abschied am Ende dieses Prozesses stehen können. Aber so empfinde ich es als hilflosen Aktionismus. Die Gemeinde hat bestimmt Sehnsucht nach Erneuerung, weiß aber nicht, wie sie das machen soll. Für uns Opfer war das Schlimmste das Alleinsein und die innere Spaltung. Diese Zerrissenheit und Ohnmacht spiegeln sich jetzt in der Aufarbeitung in Ahrensburg wider.

Ist die Würde der Ahrensburger Opfer schon wieder hergestellt?

Berner: Nein. Ich erlebe den Umgang mit uns Opfern nicht als würdevoll. Dafür müssten sich die Verantwortlichen deutlicher äußern, als sie es bislang taten. Ein öffentliches Bekenntnis, das die Kirche schuldig geworden sei, reicht nicht. Mir fehlt die tätige Reue. Zumindest erreicht sie mich nicht persönlich. Das Schweigen geht weiter. Ich vermisse konkrete Taten. Sie würden für mich einen echten Ausstieg aus dem Schweigesystem Missbrauch bedeuten. Es mangelt noch immer an Verantwortung, auch seitens Heide Emse, des Ruhestandsgeistlichen Friedrich H. und Dieter Kohl. Am Tag vor ihrem Rücktritt schrieb mir die ehemalige Bischöfin Maria Jepsen noch einen Brief mit dem Angebot eines persönlichen Gesprächs, dann tritt sie zurück. Das ist doch nicht würdevoll. Ich wünschte, sie hätte sich zu uns gestellt. Daran hätte ich tätige Reue erkannt. Ich wünsche mir wirklich Versöhnung, das heißt für mich das Ende des Schweigens.