Interview mit Inge Jens über die Kriegsjahre, tägliches Schwimmen und das Leben mit ihrem demenzkranken Mann, der sie nicht mehr erkennt

Ahrensburg. "Ja, es war wunderbar." Mit diesem Satz schließen die "Unvollständigen Erinnerungen" der Literaturwissenschaftlerin Inge Jens. Es ist das erstaunliche Fazit einer Frau, die zusehen muss, wie ihr Mann "entschwindet": Walter Jens, der frühere Rhetorikprofessor, leidet an Demenz.

Seit 60 Jahren ist Inge Jens mit ihm verheiratet. Vor sechs Jahren hat er seine Reise in die Nacht angetreten. Das Buch, das sie geschrieben hat, war auch Ersatz für den fehlenden Dialog mit dem Partner. Im Interview mit der Regionalausgabe Stormarn des Abendblattes spricht die 83 Jahre alte Inge Jens über die Vergangenheit und den Krieg, über die Gegenwart und den Alltag mit der Krankheit, über Ängste und Wünsche und ihr Bekenntnis zum Leben.

Hamburger Abendblatt:

Wie haben Sie ihren Tag begonnen?

Inge Jens:

Ich bin um 6.30 Uhr aufgestanden, habe meine Runden geschwommen und dann die Post erledigt.

Machen Sie das jeden Morgen?

Ja, sonst hat es keinen Sinn.

Sie sind offenbar sehr diszipliniert.

Ich bin jetzt 83 Jahre alt. Wenn ich mit Disziplin und Ruhepausen noch leisten kann, was ich will, bin ich zufrieden.

Was wollen Sie denn noch leisten?

Ich möchte vor allem die Dinge auf dem Laufenden halten. Und ich möchte Bücher lesen und Briefe schreiben.

Haben Sie Lieblingsbücher?

Ich bekomme Bücher zugeschickt. Ansonsten muss ich mich noch mit Klaus und Heinrich Mann beschäftigen. Ein Lieblingsbuch, das mich überall hin begleitet, wie der "Zauberberg" von Thomas Mann, den mein Mann im Krieg stets bei sich hatte, gibt es bei mir nicht.

Die Familie Mann hat sie beide beschäftigt, Sie und ihren Mann.

Mein Mann war, was Literatur angeht, entschieden besser. Er war viel belesener und ein großer Thomas-Mann-Kenner, lange vor mir.

Dennoch haben Sie sich als Herausgeberin der Tagebücher von Thomas Mann einen Namen gemacht.

Das ist etwas anderes. Ich bin mehr Historikerin. Deswegen habe ich auch mehr Biografien gelesen.

Haben Sie deswegen jetzt auch eine Autobiografie geschrieben?

Es ist keine Autobiografie. Es sind, wie man in Schwaben zu sagen pflegt, mit Fleiß aufgeschriebene Erinnerungen. Und sie sind sogar unvollständig. Manches hielt ich nicht für wichtig.

Ich bin als Person nicht so interessant. Die Menschen beschäftigen sich mit mir, wie der Erfolg des Buches zeigt, weil ich ein Generationsschicksal verkörpere. Ich bin ein Kriegskind und weniger durch den Nationalsozialismus geprägt, als durch das Kriegsgeschehen. Beim Hamburger Feuersturm war ich 15 Jahre alt.

Wie hat der Krieg Sie verändert?

Tagesangriffe fanden bei strahlender Sonne und klarer Sicht statt. Deswegen konnte ich mich lange nicht über einen blauen Himmel freuen. Die primitive Werteskala hatte sich verschoben. Ich habe immer doppelt denken müssen. Das ist jetzt vorbei.

Sie haben ihre Erinnerungen aufgeschrieben, als ihr Mann wegen seiner Demenz als Gesprächspartner nicht mehr zur Verfügung stand. War das Schreiben Ersatz für den fehlenden Dialog?

Ja, ich hätte es sonst nicht geschrieben.

Gab es eine Selbsterkenntnis dabei?

Ich habe gesehen, was für ein reiches und interessantes Leben ich gehabt habe. Das hilft Ihnen in einer Situation wie der gegenwärtigen ungeheuer. Denn Sie sehen sehr deutlich, dass Sie keinen Grund haben, sich zu beschweren.

Gefällt Ihnen ihr Buch? Was ist Ihnen besonders gelungen?

Situationen gut zu beschreiben. Das habe ich vorher nicht gewusst, dass ich das kann. Es macht Spaß, das festzustellen.

Die Tatsache, dass Ihr Mann nicht mehr so wortgewaltig war, hat den Anstoß für das Schreiben gegeben. Hat die Krankheit, der Rückzug ihres Mannes, Ihnen den Weg frei gemacht, ihre eigenen literarischen Fähigkeiten auszuleben? Sie erscheinen auch mehr in der Öffentlichkeit. Haben Sie das vorher vermisst?

Nein, das hätte ich ja haben können. Mein Mann hat mich gefördert, wo immer er konnte. Ich habe nie das Gefühl gehabt, in seinem Schatten zu stehen.

Ist das Kriegskapitel das wichtigste?

Ja, im Hinblick auf eine Grundeinstellung zum Leben.

Wollen bei Lesungen die Menschen trotzdem mehr über Ihren Mann erfahren?

Ja, die meisten schon. Ich habe gelernt, über die Krankheit zu reden. Die Fragen sind für diejenigen, die sie stellen, wichtig. Ich war mit meinen Söhnen einig, kein Geheimnis aus der Krankheit zu machen. Es ist keine Schande, dement zu werden. Mein Mann wäre der Erste gewesen, dem zuzustimmen. Andererseits weiß ich aber auch, dass er nie so hat leben wollen. Und ich weiß auch sehr genau, dass ich kein Recht habe, ihm vom Leben zum Tode zu verhelfen. Das wäre Mord.

Sie sind für Ihre Offenheit bewundert, aber auch angefeindet worden. Hat Sie das verunsichert?

Nein, nie. Ich weiß jetzt, was Demenz bedeutet. Da hilft nur, ehrlich zu reden oder zu schweigen. Ein Arzt sagte mir zwischen Tür und Angel: Ihr Mann wird dement. Ich wusste nicht, was das hieß. Ich bin jetzt nicht dafür, dass sich die ganze Welt mit Demenz beschäftigt. Aber wenn es so weitergeht, sind nicht mehr die Dementen das Problem, sondern die pflegenden Angehörigen. Die bedürfen der Fürsorge. Und das geht alle an.

An die 100 Lesungen haben Sie schon gemacht. Wie regeln Sie die Pflege?

Ich reise sehr gern. Und ich kann das tun, weil ich das ganz große Glück habe, dass Pfleger meinen Mann zu Hause versorgen. Ich bin sehr dankbar dafür. Ich muss auch nicht mehr jede Nacht zwei-, dreimal raus. Das ist sehr anstrengend über die Jahre. Sie können die Pflege eines Dementen nicht allein bewältigen.

Wie geht es Ihrem Mann jetzt?

Ich kann es nicht sagen. Ich weiß es nicht. So weit ich es von außen sehen kann, geht es ihm physisch nicht schlecht. Er ist 87, und er kann laufen.

Nehmen Sie die Mahlzeiten noch gemeinsam ein?

Ja, das tun wir.

Spricht er?

Nein, er artikuliert bestenfalls vorgestanzte Formeln, und die passen oft nicht. Und wenn sie passen, ist es erschreckend, weil Sie sofort denken: Mein Gott, er hat alles mitgekriegt!

Erkennt er Sie?

Nein. Er kann nicht mehr in den Kategorien Familie, Frau, Kinder denken. Die Pflegerin und ich sind seine Bezugspersonen. Zu uns hat er Vertrauen. Einer sollte immer da sein.

Sie sind 60 Jahre verheiratet. Wie ist das, wenn ein Mensch sich so verändert? Ist die Liebe noch da?

Es ist eine einseitige Form der Fürsorge, während Liebe immer etwas Partnerschaftliches ist. Vielleicht nennen wir es liebevolle Barmherzigkeit. Was er für mich empfindet, weiß ich nicht. Manchmal freut er sich, wenn er mich sieht. Manchmal schlägt er mich auch. Die Aggression gehört zum Wesen der Krankheit. Am Anfang war ich persönlich verletzt. Das ist vorbei. Die Krankheit hat nichts Schreckliches mehr für mich.

Löst sie Ängste aus?

Nein. Sie löst eine große Traurigkeit aus, wenn Sie sehen, was von einem Menschen übrig bleibt. Er ist jetzt ein kreatürlicher Mensch. Aber das ist noch sehr viel, wie sie staunend feststellen.

Woher holen Sie sich ihre Kraft?

Ich habe zwei Söhne, und ich habe Freunde. Das ist das Wichtigste: Freunde, die zuhören, die auch mal Widerpart sein können, vor denen Sie keine Scheu zu haben brauchen. Ohne Freunde kann man es nicht schaffen.

Sie wirken sehr kopfgesteuert. Brechen denn Ihre Gefühle nie aus?

Im Anfang schon. Sie entwickeln Gegenaggressionen. Sie sagen: Was soll das? Muss das jetzt sein? Mein Gott, wie soll das gehen! Aber wenn Sie übrig bleiben wollen, dürfen Sie sich nicht nur ihren Gefühlen überlassen, denn mein Mann kann nichts mehr als genau das.

Haben Sie Angst vor der Zukunft?

Natürlich habe ich Angst davor, wie es mit meinem Mann weitergeht. Aber im Deutschen gibt es das schöne Wort anheimstellen. Es gibt Dinge, die ich nicht im Voraus lösen kann. Da ist es besser, sich ein bisschen zurückzunehmen und das Schicksal anzuerkennen. Sie müssen hoffen, dass Sie die Dinge klären können, wenn Sie eintreten oder aber, dass dann andere da sind, die das tun.

Sind Sie ein glücklicher Mensch?

Ja, ich denke schon. Das hat mir auch die Rückschau beim Schreiben gezeigt.

Die "Unvollständigen Erinnerungen", werden die irgendwann vollständig?

Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Ich habe gesagt, was zu sagen ist.