Zur Halbzeit im ersten Abschnitt der Bahngroßbaustelle liegen bei den Anwohnern die Nerven blank. Sie fürchten sogar um ihre Gesundheit.

Horneburg/Buxtehude. Ohne seine roten Ohrenschützer setzt Walter Tams in diesen Tagen keinen Schritt vor die Tür. Schließlich muss er jede Sekunde damit rechnen, dass die Signalhörner unvermittelt losschrillen, die keine 20 Meter von seinem Haus entfernt am Gleis stehen. Ihre Schalltrichter sind direkt auf seine Terrasse gerichtet. Als die gelben Tröten am ersten Abend ohne jede Vorwarnung plötzlich losheulten, sei er fast zu Tode erschrocken, berichtet Tams, der im Buxtehuder Stadtteil Heitmannshausen direkt an den Bahngleisen wohnt: "Dieses Geräusch ist infernalisch."

So wie Tams geht es vielen Bahnanrainern zwischen Buxtehude und Horneburg. Zwei Wochen nach Beginn der groß angelegten Gleissanierung zwischen Buxtehude und Stade liegen bei ihnen die Nerven blank. Ärgernis Nummer eins: die extrem lauten Warnsirenen, die fast rund um die Uhr losheulen, um die Arbeiter vor herannahenden Zügen zu warnen. Mit ihren 126 Dezibel sind sie lauter als ein startender Düsenjet. Ärgernis Nummer zwei: die Informationspolitik der Bahn, die es nicht für nötig befunden hatte, die Bürger im Vorfeld über den Einsatz der Mega-Tröten zu informieren.

Seit 34 Jahren leben Walter Tams und seine Frau Karin in Heitmannshausen an der Bahn. Bahnlärm ist für sie normal, auch mit dem Baulärm selbst könnten sie gut leben, versichern beide. Was ihnen die Bahn jedoch mit der aktuellen Baustelle biete, hätten sie in all den 34 Jahren noch nicht erlebt. "Diese Tröten sind unerträglich. Wir fürchten wirklich um unsere Gesundheit. Bei 120 Dezibel liegt die Schmerzgrenze, ab dort können Gesundheitsschäden auftreten", sagt Tams. Zum Schlafen ist das Ehepaar inzwischen in den Keller gezogen, aber selbst dort bekommen sie nur mit Ohropax überhaupt ein Auge zu. Auch Tams Nachbarin Sabine Wulff klagt über Schlafstörungen, seit die Typhone, wie die Signalhörner in der Bahnsprache heißen, Tag und Nacht quäken. Mehrfach sind die Hörner nachts in den Störmodus gegangen. Was folgte, war ein teils zweistündiges Dauergeheul: "Das war besonders schlimm. Morgens waren wir wie gerädert", erzählt Wulff.

Wer konnte ist aus Heitmannshausen geflohen, Schichtarbeiter sind in Pensionen umgezogen. Für die Bauarbeiten und die Sicherheit der Arbeiter haben alle Verständnis. Nicht aber für die Art, wie ihnen die Anlagen einfach so ohne jede Vorwarnung vor die Tür gestellt worden sind. "Eine Rücksichtslosigkeit, so etwas in einem Wohngebiet zu installieren", findet Wulff.

Der einzige Trost für alle Betroffenen: Das Ende ist absehbar. "Wir liegen mit den Arbeiten voll im Zeitplan", sagt Karsten Klöcker, leitender Bahnüberwacher für die Bahnbaustelle. Pünktlich gestern Nacht war Halbzeit im ersten Bauabschnitt zwischen Buxtehude und Horneburg. Dort ist das neue Gleis Richtung Stade jetzt fertig. Ab heute ist das Gegengleis Richtung Hamburg dran. Heute Mittag startet die riesige Gleisbaumaschine "Katharina die Große" von Horneburg aus Richtung Neukloster. Pünktlich in der Nacht des 19. August soll der Abschnitt Buxtehude-Horneburg fertig sein. Für die Bewohner Heitmannshausens ist das Schlimmste jetzt schon ausgestanden: Weil das Gleis Richtung Hamburg zwischen Neukloster und Buxtehude bereits 2005 erneuert worden ist, wird es laut Klöcker jetzt nicht mehr angefasst.

Von Montag, 20. August, bis Sonntag, 2. September, werden dann die Anwohner zwischen Dollern und Stade die Signalhörner näher kennenlernen. Denn die seien jetzt Stand der Technik und an ihnen führe zum Schutz der Bauarbeiter kein Weg vorbei, sagt Klöcker. In ihrer Lautstärke seien die Hörner flexibel auf die Maschinen abgestimmt, die auf der Baustelle eingesetzt werden. Sie sind exakt so laut, dass sie die lauteste Maschine noch übertönen. Das ist in diesem Fall "Katharina die Große", deren riesiger Schotterbrecher den stärksten Krach verursacht.

Nach den massiven Beschwerden der Anwohner, aber auch der Bahnkunden, die in den ersten Tagen teils stundenlang am Stader Bahnhof standen und nicht über ausfallende Züge informiert wurden, bemüht sich die Bahn jetzt um Schadensbegrenzung.

"Wir nehmen das zum Anlass, zu hinterfragen, was wir künftig besser machen können", verspricht Peter Wulf, Arbeitsgebietsleiter Betrieb bei der DB Netz. Die Anwohner im Vorfeld per Handzettel zu informieren, sei leider versäumt und erst nachgeholt worden, nachdem die Beschwerden kamen. 18 000 Infoblätter seien entlang der Strecke bis Stade verteilt worden: "Jetzt sollten eigentlich alle Bürger informiert sein." Um die Lärmbelastung für die Anwohner zu reduzieren, laufen die Hörner jetzt nicht mehr im Dauerbetrieb, sondern werden nur angeschaltet, wenn wirklich Arbeiter am betreffenden Abschnitt zugange sind.

Auch S-Bahn und Metronom wollen aus dem Info-Desaster lernen und für die verbleibende Bauzeit einen besseren Service bieten. Im Stader Metronom-Servicecenter sei die Mitarbeiterzahl erhöht worden, Mitarbeiter seien an den Bahnsteigen als Ansprechpartner greifbar, stünden für Fragen zur Verfügung und geben den Sonderfahrplan aus. Telefonisch können die Kunden unter 0581/97 16 41 64 Kontakt zum Service-Center der Eisenbahngesellschaft aufnehmen Auch die S-Bahn Hamburg hat unter 040/39 18 43 85 eine Kontaktstelle, bei der Kunden Informationen über die aktuelle Verkehrslage erhalten und Kritik loswerden können. Und die Bahn denkt nach den Erfahrungen in Buxtehude über ein künftiges Servicetelefon für Anwohner von Baustellen nach.

Für die leidgeprüften Buxtehuder indes kommt das zu spät. In einem Punkt sind sie sich alle einig: Einen solchen Nervenkrieg wie in den vergangenen zwei Wochen wollen sie nicht noch mal erleben müssen.