Winsener gibt freiwillig Führerschein ab. Viele Senioren fahren so lange weiter, bis es kracht. Andere Länder prüfen Fahrtauglichkeit.

Winsen. Als Hartmut Fast das zweite Mal auf die Gegenfahrbahn lenkt, entscheidet er sich: Nie wieder fahren! Zusammen mit seiner Frau, so wird der Rentner später erzählen, ist er auf dem Rückweg vom Gardasee nach Winsen. Das Ehepaar hat die Tochter besucht, die in Italien lebt. Der Schock sitzt tief nach dem Aussetzer auf den italienischen Straßen. Hartmut Fast bedient seit diesem Augenblick keine Gangschaltung, dreht nicht mehr am Steuerrad und tritt nicht mehr aufs Gaspedal. Stattdessen geht er, wieder zu Hause, zur Führerscheinstelle des Landkreises Harburg in Winsen und gibt seinen Führerschein ab. Freiwillig. Einfach so.

+++ Ältere Fahrer zum Gesundheitscheck +++

So ein Verzicht aus freien Stücken ist äußerst selten. Zwar hat sich die Zahl der Autofahrer, die ihren Führerschein beim Landkreis Harburg abgegeben haben, in den vergangenen drei Jahren etwa verdoppelt. Es wurde nach Aussage der Führerscheinstelle sogar eine Mitarbeiterin mit dem neuen "Sachgebiet hohes Lebensalter", wie es im Beamtendeutsch heißt, betraut. Der demografische Wandel hinterlässt auch in der Behörde seine Spuren. Die Menschen, die mit dem Auto groß geworden sind, kommen jetzt ins hohe Alter und fahren, so lange es geht. Dass es meistens eigentlich gar nicht mehr geht, merken die wenigsten. Die meisten Senioren geben erst ihren Führerschein ab, wenn sie dazu gedrängt werden.

Von den 312 Autofahrern, die seit 2002 im Landkreis Harburg auf ihren Führerschein verzichteten, hatten 147 zuvor Unfälle verursacht oder auf den ärztlichen Rat hin das Fahren aufgegeben. Lediglich zwölf Autofahrer gaben ihren Lappen ab, ohne dass es eine amtliche Vorgeschichte gab. Über die Differenz ist nichts mehr bekannt - die Menschen sind schon tot.

Hartmut Fast sitzt an seinem Wohnzimmertisch in seinem Haus in Winsen und präsentiert das Bestätigungsschreiben der Führerscheinstelle des Landkreises vom 27. Mai 2011. "Für Ihre Einsicht und Ihr Verantwortungsbewusstsein dankt Ihnen der Landkreis", steht dort. Hartmut Fast ist ein Familienmensch. Stolz schwingt in seiner Stimme, als er von seinen zwei Kindern und seinen sieben Enkeln erzählt - davon, was sie können und was sie in ihrem Leben erreicht haben. Er zeigt Bilder von seinen Enkeln und berichtet vom gemeinsamen Essen im großen Familienkreis. Nicht auszudenken sei es, dass ihnen etwas im Straßenverkehr zustoße, dass jemand - anders als er - falsch handele und seinen Führerschein nicht abgebe. Bemerkungen von Freunden und Bekannten, die ihn nach dem Führerscheinverzicht für verrückt erklärten, ließen ihn kalt. Er bereut nichts. "Ich wollte nicht zum Mörder werden", sagt Hartmut Fast. All die anderen Autofahrer, die eigentlich nichts mehr im Straßenverkehr zu suchen hätten, nennt er egoistisch, rücksichts- und verantwortungslos.

Doch Autofahrer, die weiterhin fahren, obwohl sie es nicht sollten, werden nicht ernsthaft in Kauf nehmen wollen, andere und sich selbst zu gefährden. Vielmehr können sie das, was sie am Steuer können, nicht mehr richtig bewerten. "Der Erfahrungsschatz der älteren Leute, den sie über all die Jahre im Verkehr ansammeln, führt meistens zur Selbstüberschätzung", sagt Uwe Stoef, Leiter der Führerscheinstelle beim Landkreis Harburg. Der Beamte hat zahlreiche Gespräche mit älteren Führerscheinbesitzern geführt, und im Grunde geht es immer um das Gleiche: um die Unabhängigkeit und die Mobilität. Auto fahren heißt, frei zu sein. "Wir sind darauf angewiesen, dass sich die Autofahrer selbst überprüfen, aber die kommen gar nicht auf die Idee", sagt Stoef.

+++ Lappen mit Verfallsdatum +++

Auch Hartmut Fast hatte bis zu dem Vorfall in Italien nicht an seinen Fähigkeiten am Steuer gezweifelt, obwohl er da schon lange an Parkinson litt. Er schluckte jeden Tag rund 20 Tabletten, ahnte aber nicht, dass er damit eine Gefahr im Straßenverkehr war. "Die Tabletten können heftige Halluzinationen hervorrufen", weiß Lydia Fast heute. Auch die Beamten in der Harburger Führerscheinstelle horchen auf, wenn Autofahrer, die beispielsweise als Parkplatzrempler aufgefallen sind, an Parkinson leiden. Gleiches gilt für Menschen, die an Epilepsie und Demenz erkrankt sind. "Mit einem ärztlichen oder medizinisch-psychologischen Gutachten wird überprüft, ob das Krankheitsbild die Ursache für die Verkehrsauffälligkeit ist", sagt Uwe Stoef.

Die behandelnden Ärzte sind nicht verpflichtet, der Führerscheinstelle etwa Auto fahrende Parkinson-Patienten zu melden. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass die Führerscheinstelle erst dann von der Fahruntüchtigkeit mancher Senioren erfährt, nachdem es zu Blechschäden gekommen ist. "Im besten Fall weist der behandelnde Arzt darauf hin, dass der Patient nicht mehr fahren sollte", sagt Uwe Stoef.

Doch im Falle von Hartmut Fast hätten weder der Hausarzt noch die Neurologen eine Fahruntüchtigkeit thematisiert oder gar einen eventuellen Führerscheinverzicht angesprochen, sagt das Ehepaar. Und so lenkte Hartmut Fast jahrelang - bis zu dem Ereignis nach dem Italienurlaub - weiterhin das Auto. Als Oberhaupt der Familie war er der Mann am Steuer. Er fuhr seinen Sohn von seinem Wohnort Sangenstedt nach Winsen in dessen Goldschmiedegeschäft. Er fuhr seine Enkelkinder. Wer von den sieben Enkeln keinen Führerschein besaß, konnte sich immer an Opa, den Chauffeur, wenden. Es war für ihn selbstverständlich, auch nachts aufzustehen, um seine Enkel von der Disco abzuholen. Auf diesen Service müssen sie nun verzichten. "Sie sind die Leidtragenden", sagt Hartmut Fast und muss ein bisschen schmunzeln. Denn eigentlich wäre er es, der das Recht hätte zu jammern. Doch im Vergleich zu alleinstehenden Senioren hat er einen Vorteil: Er hat mit Lydia Fast eine aktive Frau an seiner Seite, die gern und sicher Auto fährt. "Ich gebe meine Freiheit nicht auf, weil meine Frau zu mir hält." Das tat sie auch vor zwei Jahren in Italien. Sie setzte sich ans Steuer und bewältigte die 1200 Kilometer lange Strecke. Kurz an der Raststätte raus und weiter. Aber es tat gut. Nicht nur, weil sie die Mammutstrecke alleine gewuppt hat. Sondern vor allem deshalb, weil sich alles richtig angefühlt hat.