Eine Glosse von Martin Jäschke

Jeder von uns weiß es seit früher Kindheit aus eigener Erfahrung: Den Schorfrand einer langsam vor sich hinheilenden Schürf- oder Schnittwunde wieder aufzuknibbeln bedeutet eine deutlichen Rückschritt im Wundheilungsprozess. Nicht, dass wir das als Kleinkind schon so schön hätten beschreiben können, aber wir wussten: Gut ist das nicht.

Denn wer glaubt, der Schorf sei nur oberflächlich und eine lästige optische Beeinträchtigung am sonst mehr oder weniger schönen Körperteil, der irrt. Und zwar immer wieder. Ich weiß sehr wohl, dass die Schorfschicht, je nach Wunde, gerne bis tief in den Finger oder das Knie hineinragen kann. Und ich weiß sehr wohl, dass wenn ich einen Teil der Schicht abknibbele, sich dieser bemerkenswert solidarisch mit dem kompletten Rest der Schorfschichten zeigt. Wenn sie gehen, gehen sie alle gemeinsam.

Und dann kann man für eine Sekunde in den säuberlich aufgeräumten Abgrund der Wunde blicken. So lange dauert es nämlich ungefähr, bis sie wieder mit frischem, dunklem Blut vollgelaufen ist, das sich nach wenigen weiteren Sekunden als dicker, gewölbter, glänzender Tropfen auf dem beknibbelten Körperteil präsentiert.

Ich bin jetzt 29 Jahre alt und hatte in dieser Zeit eigentlich zur Genüge Gelegenheit, dieses Naturgesetz zu verinnerlichen. Und trotzdem übt der Knibbelreiz einen unfassbar starken Zwang aus. Denn mein Wissen hat mich vor wenigen Minuten, kurz bevor ich zu fluchen begann, wieder einmal nicht davon abgehalten, Schorf an meinem rechten Zeigefinger genüsslich abzuknibbeln. Aber bald ist Weihnachten. Und die Pflasterhersteller sollen ja auch nicht Hunger leiden.