Archäologen finden Haddorfs mittelalterliches Zentrum. Bisher war vieles über die Vergangenheit der Stadt unbekannt. Es gibt nur wenige Quellen.

Stade/Haddorf. Nicht einmal eine handvoll Häuser stehen auf den weiten Wiesen nahe der weitläufigen Elbe, etwa 50 in Wolle und Leinen gekleidete, ärmlich wirkende Menschen gehen ihrer täglichen, knochenharten Arbeit auf dem Hofe nach. Sie versorgen die Tiere, bewirtschaften mühselig von Hand ihre Äcker. Einen Teil ihrer Erträge müssen sie an die Lehnsherren abgeben. Einiges wird in Stade auf dem Markt verkauft, der karge Rest der Ernte bleibt für die Familie und die Bediensteten auf den Höfen. So in ungefähr könnte der Alltag in dem Dorf Haddorf bei Stade um das Jahr 1000 ausgesehen haben.

"Wir wissen leider nur wenig über das Alltagsleben in den Dörfern, da vor dem Jahr 1200 kaum Quellen zu dieser Zeit vorhanden sind", sagt Stades Stadtarchäologe Andreas Schäfer. Die meisten Quellen, die Auskunft über das Alltagsleben im Mittelalter geben, wurden in den Städten verfasst. Sicher sei daher nur, dass die Menschen in Haddorf um das Jahr 1000 in erster Linie Selbstversorger waren, und ihr Leben vor allem eines war: hart.

Vieles ist noch unklar über Haddorfs Vergangenheit. Sicher ist aber, dass das Dorf viel älter ist, als Jahrhunderte lang angenommen. Bis vor wenigen Jahren ist noch allgemein davon ausgegangen worden, dass Haddorf etwa zu Beginn des 13. Jahrhunderts gegründet wurde. 1204 wurde die Ansiedlung erstmals schriftlich als "Hardestorp" erwähnt, als Pfalzgraf Heinrich dem Kloster St. Marien den Hof Hardestorp übertrug. Dass der Ort aber viel älter sein müsste, dafür gab es mehrere Hinweise. "Die vorhandenen Quellen ließen uns vermuten, dass der Ort deutlich älter ist, sodass eine weitere Erforschung der Gegend sinnvoll erschien", sagt Schäfer. Die Archäologen sollten am Ende auch Recht behalten.

Drei oder vier Kernhöfe mit jeweils 10 bis 15 Menschen, die dort arbeiteten, wurden in Haddorf vermutet. Bei den Grabungen des 12-köpfigen Archäologenteams in der Nähe einer Neubausiedlung stießen die Wissenschaftler auf mehrere historische Überreste, die jetzt Aufschluss über die Vergangenheit Haddorfs geben. Unter der Leitung der Archäologin Andrea Finck wurde unter anderem ein außerordentlich gut erhaltener Feldsteinbrunnen aus der Neuzeit freigelegt. Kurz vor Abschluss der Grabungen konnten weitere Highlights dokumentiert werden. Von besonderer Bedeutung sind für die Archäologen dabei zwei hölzerne, rechteckige Kastenbrunnen aus der Zeit des hohen Mittelalters, sowie ein eingetieftes Webhaus.

Dieses Haus, ein sogenanntes Grubenhaus, ist der Nachweis für die Anfertigung von Textilien im mittelalterlichen Haddorf. Die vorhandenen Brandschichten würden laut Schäfer zeigen, dass dieses Gebäude mitsamt seinem Gewichtswebstuhl abbrannte.

Während bei vielen Grabungen oft verschiedene Puzzleteile verbleiben, die zumeist erst Jahrzehnte später mithilfe weiterer Ausgrabungen eingeordnet werden können, fügte sich für die Wissenschaftler in Haddorf bereits während der Grabung das Bild zu einer einheitlichen Struktur zusammen. Der ausgegrabene Hausgrundriss mit fast 30 Metern Länge und etwa 196 Quadratmetern Grundfläche, mehreren Nebengebäuden und einem Speicher, sowie das Grubenhaus und die Brunnen lassen auf ein vollständiges Ensemble des Mittelalters ab 1000 nach Christus schließen.

"Die Grabung war für uns ein absoluter Glücksgriff", sagt Schäfer. Es sei das erste Mal, dass im Elbe-Weser-Raum ein Dorfkern in der in Haddorf gefundenen Komplexität auf einmal ans Tageslicht gebracht werden konnte. "Zumindest habe ich noch nie erlebt, dass alles mit einem Mal vorhanden war. Es ist sonst immer ein langwieriges Puzzlespiel, das wir betreiben", sagt der Archäologe.

Nach Abschluss der Grabungen beginnen nun die Auswertungsarbeiten und die Analysen. Diese werden nach den neuesten naturwissenschaftlichen Standards unternommen. Der Hausgrundriss des Hauptgebäudes wird in Oldenburg mittels Phosphatuntersuchungen auf eine funktionale Trennung der Gebäudeteile untersucht. Spannend ist für Schäfer die Frage nach der Größe der Wohn- und Stallbereiche.

Die Hölzer der beiden Kastenbrunnen werden im Deutschen Archäologischen Institut in Berlin auf das genaue Alter mit der sogenannten Dendrochronologie, also einer Jahrringanalyse untersucht. Da hölzerne Brunnen in mittelalterlichen Dörfern außerordentlich selten sind, ist die genaue Altersbestimmung für die Archäologen auch von wichtiger überregionaler Bedeutung.

Es ist nicht die erste Grabung im Stader Raum, die die Archäologen betreiben. Auch in Hagen wurde gegraben. Dort wurden Überreste aus der Zeit um 500 gefunden, später, an anderer Stelle, Überreste aus dem 13. Jahrhundert. "Fast alle Dörfer sind über die Jahrhunderte hinweg mit ihrem Standort gewandert. Für Hagen wissen davon, obgleich eine vollständige Informationslücke zwischen 500 und 1200 nach Christus besteht", sagt Schäfer. Haddorf hingegen habe sich räumlich über mehr als 1000 Jahre nicht verlagert.

Der alte Dorfkern befindet sich in unmittelbarer Nähe des heutigen Haddorfer Dorfkerns. "Das könnte daran liegen, dass die Siedlungsfläche ausreichend gewesen ist und die Äcker gut. Die Lage war wohl ideal, so dass es keinen Grund gab, den Ort zu verlegen", sagt Schäfer.

Im Winter wollen die Archäologen in Zusammenarbeit mit dem Ortsrat und dem Haddorfer Heimatverein die Haddorfer in einem Vortrag über die Erfolge der Grabungen und deren Bedeutung für den Ort informieren.

Das Dorf bei Stade könnte demnächst auch in die Literatur eingehen. "Ich kann mir auch vorstellen, dass in Haddorf gefundene Material demnächst Grundlage für eine Magisterarbeit an der Universität wird", sagt Schäfer. Der Umfang der zu Tage geförderten Funde sei dafür ideal.