Der 51-jährige Harry Lohmann wurde am 3. August 2010 am Stader Bahnhof niedergestochen. Heute begegnet er dem Angeklagten vor Gericht.

Stade. Harry Lohmann sitzt in seinem Garten. Der 51-jährige Stader wirkt nachdenklich. Heute wird er im Gerichtssaal zum ersten Mal in die Augen des Mannes blicken, der ihn vor knapp einem Jahr in der Nähe des Stader Bahnhofs niedergestochen haben soll. Angst habe er nicht, sagt Lohmann. Trotzdem sei er ein wenig aufgeregt. Er streicht über seine linke Hand. Er kann seine Finger nicht mehr uneingeschränkt bewegen und seinen Arm nicht mehr durchstrecken. Trotzdem kann er der schrecklichen Tat Positives abgewinnen. "Ich hatte noch großes Glück", sagt Lohmann.

Es geschieht am 3. August 2010. Gegen 22.40 Uhr kommt Harry Lohmann aus der Stader Innenstadt und will zu seinem Auto, dass er am Bahnhof geparkt hat. Plötzlich sieht er, dass die Fahrertür seines Autos offen ist, ein Mann kniet davor, mit dem Oberkörper im Fahrzeug. "Ich habe zuerst noch gedacht, es ist gar nicht mein Auto", sagt Lohmann heute. Dann erkennt er seinen Ford Focus Kombi.

Er schreit dem Unbekannten zu, der sieht kurz hoch und flüchtet in Richtung Wall. Lohmann sprintet hinterher. Er bekommt den Autoknacker zu fassen, beide fallen zu Boden. Dann gibt Lohmann ihm einen Faustschlag auf die Nase. Der Täter, so Lohmann heute, sei kurz benommen gewesen. Als Lohmann die Polizei rufen will, wehrt sich der Täter erneut. "Ich kam nicht an mein Handy heran, weil ich ihn wieder festhalten musste", sagt Lohmann.

Dann hat er keine Kraft mehr. Er muss den Mann loslassen.

"Plötzlich war überall Blut", sagt Lohmann. Er habe gar nicht gemerkt, dass der Mann auf ihn einstach. Blutüberströmt taumelt Lohmann zur Straße, ruft um Hilfe. "Die Autos sind einfach weitergefahren", sagt Lohmann, noch heute enttäuscht. Mit letzter Kraft wählt er die Notrufnummer. Doch, wie Lohmann später erfährt, haben Zeugen bereits die Polizei alarmiert. Deshalb seien Polizei und auch ein Rettungswagen schnell vor Ort gewesen.

"Dann weiß ich nur noch, wie ich im Krankenhaus wieder aufgewacht bin", sagt Lohmann. Gegen 0 Uhr informiert die Polizei Lohmanns Tochter Jenny, die dann prompt losfährt. Harry Lohmann wird im Krankenhaus sofort notoperiert. Gegen 4 Uhr sei ihr Vater dann auf die Intensivstation gekommen, gegen 7 Uhr sei er dann kurzzeitig wieder ansprechbar gewesen, erinnert sich die 22-jährige Jenny.

Am Folgetag erfährt dann auch Harry Lohmann, was eigentlich mit ihm passiert ist. Der Täter hat siebenmal auf den Stader eingestochen, in Brust, Bauch und den Arm. Die Strecksehnen in Lohmanns linken Arm sind komplett durchtrennt worden. Innere Verletzungen hat er aber nicht erlitten. Der Stich in die Brust kam glücklicherweise nur bis zu den Rippen. "Viele Details kenne ich auch nicht", sagt Lohmann. Deshalb ist auch er gespannt, was die Gutachter am heutigen Prozesstag vor dem Stader Landgericht berichten. Insgesamt zweieinhalb Monate war Lohmann krank geschrieben. Sein Arbeitgeber unterstütze ihn aber sehr, sagt Harry Lohmann, der als Meister beim Flugzeugbauer Airbus beschäftigt ist.

Noch immer geht Lohmann regelmäßig zur Therapie, um den Vorfall zu verarbeiten. Mittlerweile könne er wieder Sport machen. "Ich fange gerade wieder an, Fußball zu spielen", sagt Lohmann. Doch im Tor, so wie vor dem Unglück, kann der frühere Keeper künftig nicht mehr spielen.

Heute sieht er den mutmaßlichen Täter erstmals vor Gericht wieder. Der 27-jährige Mann aus Hamburg wurde anhand eines DNA-Abgleichs im Dezember vergangenen Jahres ermittelt. "Das hat mich sehr beeindruckt, das kannte ich bisher nur aus Filmen oder dem Fernsehen", sagt Lohmann.

Angst habe er nicht, dem mutmaßlichen Täter zu begegnen, aber ein mulmiges Gefühl habe er schon. "Ich schlafe schlecht", räumt er ein. Am ersten Prozesstag waren weder Harry Lohmann noch seine Familie im Gerichtssaal. Schließlich sei nur die Anklageschrift verlesen worden, sagt Lohmann. Heute seien sie jedoch alle da, wenn es um 9.30 Uhr los geht.

Harry Lohmann kann nicht verstehen, warum jemand ein Messer dabei hat, wenn er aus dem Haus geht. "Das kenne ich aus meiner Jugend anders", sagt der 51-Jährige. Zwar habe es auch hin und wieder Prügeleien gegeben, aber niemals habe jemand Waffen eingesetzt oder ein wehrloses Opfer zusammengetreten. "Heute ist die Hemmschwelle niedriger", sagt Lohmann.

Über ein mögliches Urteil gegen den mutmaßlichen Täter macht sich Harry Lohmann wenig Gedanken. Allerdings wäre er bei einem Freispruch ebenso enttäuscht wie bei einer Bewährungsstrafe. Schließlich sei der Angeklagte mehrfach vorbestraft und ebenfalls schon zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Aber: "Wenn er verurteilt wird, ist es Sache des Richters über das Strafmaß zu entscheiden", sagt Harry Lohmann.

Heute ist er froh, dass er bei der Tat noch vergleichsweise glimpflich davongekommen ist.