Trotz eines eigenen Ortschildes existiert die märchenhafte Gemeinde bei Harsefeld nur inoffiziell. Und fast jeder der 50 Einwohner heißt hier Löhden

Löhdenhausen. Wer ein kleines Dorf sucht, in dem die Uhren auf geheimnisvolle Weise etwas anders gehen, braucht keine schweren Märchenbücher und keine französischen Comichefte aufzuschlagen. Und wer einen Ort sucht, in dem fast alle Menschen den selben Nachnamen haben, braucht dafür auch nicht auf den indischen Subkontinent zu reisen.

Gleich bei Harsefeld liegt so ein Ort, an dem all dies so ist. Wer sich nun neugierig auf die Geest begibt, dann in östlicher Richtung bergauf wandert und ein wenig die Augen zusammenkneift, weil ihm die Sonne ins Gesicht scheint, der sieht es schon: das Schild "Löhdenhausen". Dann ist er angekommen. In dem Ort, den es offiziell gar nicht gibt, der aber unzweifelhaft da ist.

Wie durch Zufall steht nun ein weißhaariger, fröhlich wirkender Mann neben einem großen Findling an der Straßenecke. Als Hinrich Löhden stellt er sich vor. Schnell erklärt er sich dazu bereit, dem Wanderer ein paar Geheimnisse zu lüften.

"Hier leben gut 50 Löhdens", sagt Hinrich Löhden und weist auf etwa zehn Häuser mit Giebeldach, die zwischen Pferdekoppeln und Bahngleis stehen. Die Häuser hätten die Löhdens im Laufe der Jahre alle selbst gebaut, und unter den Dächern würden nun alle Altersgruppen leben: Alte, mittelalte und junge Löhdens, teilweise auch ganz junge. "Schließlich kommen immer mal neue dazu", sagt Hinrich Löhden. Er selbst aber sei der Älteste von ihnen - sein Alter gibt er nach kurzem Nachdenken mit 86 Jahren an.

Der Wanderer folgt dem Dorfältesten durch den idyllischen Flecken, der so ganz anders wirkt als die Harsefelder Neubaugebiete, die hinter dem Horizont erkennbar sind. Ein Schotterweg führt durch Löhdenhausen, Bäume blühen, Hühner gackern. Gärtchen gehören dazu, manch eines ein wenig romantisch-unaufgeräumt, wie es der Wanderer aus Italien kennt.

Unten am Bahndamm steht eine Holzhütte, das "Backhaus", wie Hinrich Löhden es nennt. Daneben liegt ein Stück Ackerland. "Wir bauen viel selbst an", sagt Hinrich Löhden. Auch für die riesenhaften Holzstapel, die sich am Rand des Ortes auftürmen, hat er eine Erklärung: "Wir heizen unsere Häuser alle mit Holz".

Auf der anderen Seite ist der Ort von einer großen Wiese begrenzt, auf der zwei hölzerne Fußballtore stehen. "Hier machen wir im Sommer Feiern, grillen auch mal. Und hier können auch die Kleinen spielen", sagt Hinrich Löhden. Wie zum Beweis dafür, dass es die hier wirklich gibt, kommt nun eine junge Frau aus einem der Häuser, auf dem Arm trägt sie ein Baby. Als "Hinnis Enkelin" stellt sie sich vor. Und tatsächlich lebt Stefanie Corleis, natürlich eine geborene Löhden, mit ihren beiden Kindern, ihren Eltern und eben ihrem Großvater unter einem Dach.

"Ich habe zwei Jahre lang im Seevetal gelebt. Aber nach einer Weile wollte ich zurück", sagt die 27-Jährige. Die Begründung: "Ich wollte, dass meine Kinder so aufwachsen wie ich. Das ist eine eigene Welt hier. Jeder achtet mit auf meine Kleinen, und ich muss mir keine Gedanken machen."

Ihre Nachbarin Sonja, die seit ihrer Hochzeit mit Jörg Löhden auch Löhden heißt, pflichtet bei: "Jeder kennt hier jeden, jeder hilft jedem", sagt die 35-Jährige, die eigentlich als Soltau kommt und als Erzieherin in Harsefeld arbeitet, dessen Zentrum nur zwei Kilometer entfernt ist - geografisch gesehen.

Was Löhdenhausen, das streng genommen auch ein Teil Harsefelds ist, vom Rest unterscheide? "Es ist schon ein spezieller Ort hier", sagt Sonja Löhden. "Ländlicher. Naturnäher. Und familiärer."

Nur manchmal, gesteht Stefanie Corleis, gebe es auch hier Generationenkonflikte. Zum Beispiel über die Frage, wie das Unkraut richtig gezupft werde. Da komme dann durchaus mal der Satz: "Das haben wir schon immer so gemacht".

Doch warum haben die Löhdens eigentlich schon immer hier gelebt, und warum tun sie es noch heute? Der Blick zurück in die Familiengeschichte führt erst einmal in das Haus Nummer 6, in dem Hinrichs jüngerer Bruder Adolf lebt. Dicke Fotoalben mit Schwarz-Weiß-Bildern liegen auf dem Tisch, und auf einem der schweren Holzstühle hat bereits ein weiterer, jüngerer Bruder Hinrich Löhdens Platz genommen: Johannes Löhden, ebenfalls weißhaarig, ebenfalls freundlich lächelnd.

"Früher war die Gegend hier alles voller Löcher", sagt Adolf Löhden. "Richtig gebirgig", ergänzt Johannes. "Es war 'ne Mergelgrube. Hier haben sie Mergel abgebaut. Dat is'n tonhaltiger Lehm", ergänzt Hinrich Löhden. Wie seine beiden Brüder, spricht er nun ein breites Plattdeutsch, das für den Unkundigen schwierig zu verstehen und noch schwieriger aufzuschreiben ist. Der Einfachheit halber wird es daher gleich übersetzt.

Dass sich die Sippe der Löhdens ausgerechnet hier, in einer ehemaligen Mergelgrube, niederließ, kam so: Die Gemeinde Harsefeld schenkte das Land einst Peter Löhden, dem Vater der drei Brüder - und zwar "wegen sein' Kinderreichtum", wie Hinrich Löhden sagt. Der Gründer von Löhdenhausen hatte nämlich ganze dreizehn Kinder, die in der Nachkriegszeit gemeinsam mit ihren Eltern daran gingen, die vielen Löcher mit Sand zu füllen und darauf das erste Haus zu errichten.

Von dem Stammsitz, das heute noch steht, die Nummer 4 trägt und Johannes Löhdens Wohnort ist, wurde zuerst der Keller errichtet, aus Feldsteinen. Später kamen das Erdgeschoss und weitere Stockwerke hinzu. Noch später wurden weitere Häuser errichtet für die stetig wachsende Schar der Löhdens. Die Fähigkeiten dazu war in der Familie vorhanden, die Löhdens betrieben später ein eigenes Bauunternehmen. "Wir hatten sechs Maurer, einen Tischler und einen Zimmermann", sagt Hinrich Löhden. Andere Löhdens hätten sich als Bauern verdingt.

Die Erinnerung daran, dass das heutigen Löhdenhausen einmal eine Kraterlandschaft war, blieb allerdings lebendig. Noch heute erinnert daran "Uns' leewe Mergelkuhlenlied", einst gedichtet von Martha Löhden. Und auch die Erinnerung der Brüder ist lebendig: "In den Gruben war Wasser, da schwammen Fische drin, Schleie und Karpfen", sagt Adolf Löhden.

Es waren nicht die einzigen Tiere, die zeitweise in der ehemaligen Mergelgrube heimisch waren. Auch Ziegen gab es in der Nachkriegszeit in Löhdenhausen. Sie zu hüten, war die Aufgabe der Kinder, die auch schon einmal von einem Bauern "verjackt" wurden, wenn die Tiere den Feldern zu nah kamen. Dafür habe es allerdings jeden Abend Ziegenmilch zum Schwarzbrot gegeben. Und auch die Erinnerung an die Namen der Tiere ist noch sehr lebendig: "Wir ham' die immer danach genannt, wo wir die Ziege her hatten", sagt Hinrich Löhden. "Und die, die danach kamen, hießen dann auch so."

So gab es mehrere Ziegen-Generationen in Löhdenhausen, die "Hein Töter" hießen, weil ein früherer Besitzer eben so hieß. Ein weiterer Ziegen-Stamm, der auf ähnliche Weise zu seinem Namen kam, hieß "Bockelmann". Und dann gab es noch die Ziegen namens "Nottensdorf" - weil eine ihrer Ahninnen einst aus Nottensdorf kam.

Die Zeit, in der die Löhdens Ziegen hüteten, endete eines Tages. Nicht nur, weil das Baugewerbe anlief, sondern auch, "weil wir das unseren Kindern nicht mehr antun wollten", wie Hinrich Löhden sagt. Seine Tochter Rita, ebenfalls wohnhaft in Löhdenhausen, bestätigt das: "Wir mussten nie Ziegen hüten. Aber dafür durften wir manchmal auf Schweinen reiten, zum Leidwesen unserer Mütter."

Sie betont, dass sie ebenfalls in Löhdenhausen geboren ist, und zwar im Stammhaus. Woanders zu leben, habe sie sich niemals vorstellen können, für sie ist es "die einzig mögliche Art, zu leben", sagt die Frau, die als Verkäuferin in Buxtehude arbeitet. Allerdings verrät sie auch, dass sie mit einem Teil der Löhdens gelegentlich in den Urlaub fährt, nach England oder Wales. Außerdem gebe es noch einen Löhden, der mittlerweile in Nebraska wohnt. Wenn auch nur als Austauschs-Schüler.

"Die meisten Löhdens kommen wieder hierher", sagt ihre Tochter Stefanie Corleis. Auch die, die in Hamburg oder in den umliegenden Dörfern wohnen - die kämen dann eben immer mal wieder zu Besuch. Der Dorfälteste, Hinrich Löhden, betont allerdings, dass er sich sehr wohl vorstellen könnte, woanders zu leben. Aber gäbe es einen Grund dazu? "Nö", sagt er.

Bleibt nur noch ein Geheimnis zu lüften, und zwar das des Schildes, das am Ortseingang steht. Was macht es dort, wo es doch Löhdenhausen offiziell gar nicht gibt? Als Silvesterscherz sei es vor Jahren los gegangen, erklärt Adolf Löhden. Damals habe ein Familienmitglied ein Schild gemalt. Später wurde es dann vom neuen Schild ersetzt.

Ein "schlauer Polizist" haben dann einmal, schon vor rund 30 Jahren, angemerkt, das Schild dürfe hier gar nicht stehen. Hinrich Löhden löste das Problem: "Ich hab' ihm dann gesagt, das gehört der Feldgendarmerie. Dann war Ruhe", sagt er fröhlich und zufrieden.

In der Harsefelder Verwaltung, nur einen kleinen Fußmarsch von Löhdenhausen entfernt, nimmt Samtgemeinderat Bernd Meinke die Sache gelassen: "Löhdenhausen gehört eigentlich zum Gebiet des Flecken Harsefeld. Das Schild nehmen wir zur Kenntnis."

Als der Wanderer längst nach Hause gekehrt ist und noch voll von den Eindrücken aus dem wundersamen Löhdenhausen, denkt er kurz darüber nach, noch einmal weiter nachzuforschen, über das Schild und seine Herkunft. Ein Anruf beim Straßenverkehrsamt wäre dazu nötig - einer Behörde, die das alles vielleicht allzu ernst nimmt. Dann lässt er es bleiben - märchenhafte Orte wie Löhdenhausen gibt es schließlich nicht allzu viele.