Hasibullah Habibi ist der erste Austauschschüler aus Kabul in der Hansestadt

Stade. Hasibullah Habibi schaut etwas unsicher umher. Die großen, dunklen Augen mustern die vielen unbekannten Gesichter, die an ihm vorbeiziehen und die Räume mit den roten Ziegelsteinen. Ein mulmiges Gefühl ist bei dem Jugendlichen dabei, wenn er zum ersten Mal in seinem Leben die feuchtkühle Seeluft einatmet, durch die Glastür in die Tiefen des Betonbaus des Vincent-Lübeck-Gymnasiums (VLG) geht oder im Zimmer der Schulleiterin sitzt. Die Gegend, die für die kommenden sechs Monate sein neues Zuhause sein wird, ist noch ungewohnt, denn Hasibullah Habibi ist der erste Austauschschüler aus Kabul in Stade. Und er soll nicht der letzte sein, soviel steht jetzt schon fest.

Dem 16-Jährigen, der nun Schüler am Vincent-Lübeck-Gymnasium ist, sollen noch viele weitere folgen, wenn es nach Jutta Neemann, Schulleiterin des Gymnasiums, und nach Jamal Said gehen soll. Said ist von Beruf Apotheker und seit mehreren Jahren auch für die Hilfsorganisation Robin Aid tätig. Der Afghane fliegt regelmäßig nach Kabul, um dort humanitäre Hilfe zu leisten. Das Land in Zentralasien, das seit Jahrzehnten unter den Folgen mehrerer Kriege leidet, liegt politisch und wirtschaftlich am Boden, doch Said will seine Heimat nicht verloren geben.

Vor zwei Jahren, als er wieder einmal von Stade nach Kabul aufgebrochen war, kam ihm die Idee, einen Schüleraustausch zwischen Stade und Kabul zu initiieren. "Ich wollte abseits von Robin Aid meinem Land weiter helfen können", sagt Said. Wenn das Land wieder auf die Beine kommen will, dann müsse mehr, als nur ärztliche Hilfe geleistet werden. "Wir brauchen eine Bürgerschicht in Afghanistan, die in der Lage ist, das Land auch langfristig zu führen", sagt der Apotheker. Diese intellektuelle Basis, die endlich Stabilität in das zerrüttete Land bringen soll, könne nur gewonnen werden, wenn die Jugend über Lehrprogramme die Vorzüge eines demokratischen Systems und Miteinanders kennenlernt und auch einen Blick in andere Länder gewinnt, in denen die gelehrten Ideen im realen Alltag weitgehend umgesetzt werden. "Daher ist es meiner Meinung nach wichtig, den Kindern in Afghanistan die Möglichkeit zu geben, mit Schulaustauschprogrammen auch neue Eindrücke zu gewinnen. Es sind wichtige und nachhaltige Eindrücke, die sie nach Afghanistan mitnehmen und die der Gesellschaft dort helfen können", sagt Said.

Der Stader kontaktierte das Vincent-Lübeck-Gymnasium, das sich sofort für die Idee des internationalen Schüleraustausches begeistern konnte. "Zunächst wollen wir im regelmäßigen Turnus einzelne Gastschüler aus Kabul aufnehmen. Hasibullah Habibi ist der erste. Wir sind glücklich, dass bei der Premiere mit ihm alles bisher reibungslos funktioniert hat", sagt Martin Niestroj, stellvertretender Schulleiter des VLG. Über Jamal Said wurde der Kontakt zu einer Privatschule in Kabul aufgenommen. Dort ging Habibi zur Schule. Für afghanische Verhältnisse ist er überaus privilegiert. Seine Mutter ist Lehrerin, sein Vater arbeitet für die Vereinten Nationen im Agrarbereich, den Gastbesuch in Stade können sie zu einem Großteil bezahlen. Um die Kostenlast dennoch zu senken, hat Said den Gastschüler in seiner eigenen Familie aufgenommen, auch um Habibi in dem ihm fremden Deutschland einen Kontakt zu seinen Landsleuten bieten zu können. So sei es leichter, sich in das neue Umfeld einzugewöhnen.

Die Deutsche Botschaft in Kabul begrüßte die in Afghanistan eher unbekannte Idee eines Schüleraustauschs und gab ihrerseits grünes Licht für das Projekt, nachdem das VLG offiziell seine Bereitschaft erklärt hatte, den Jungen aufzunehmen. "Das am Ende alles innerhalb weniger Monate realisiert werden konnte, hat uns alle positiv überrascht", sagt Niestroj. Er geht davon aus, dass sich Habibi nun schnell einleben wird, auch in den deutschen Schulalltag. Auch wenn Habibi noch kein Deutsch kann, die Kommunikation werde schon klappen, sagt Niestroj, denn immerhin könne der Unterricht in weiten Teilen auch auf Englisch abgehalten werden. "Und wo es mal holperig wird, da werden ihm die Schüler und die Lehrer schon helfen", sagt der Niestroj.

Habibi will aber, wenn es geht, gar nicht auf Englisch zurückgreifen müssen. "Ich möchte hier vor allem schnell Deutsch lernen", sagt der junge Afghane. Er ist ehrgeizig, weiß, dass er eine einmalige Chance erhält. Und er will das beste daraus machen, auch um seine Familie nicht zu enttäuschen.

Das Umfeld, in dem er sich nun befindet, bezeichnet Habibi im Vergleich zu seiner Kabuler Heimat als eine völlig andere Welt, aber Deutschland sei schon in etwa so, wie er es sich vorgestellt hatte: grün, ordentlich und sauber. Auch wenn er zunächst etwas Angst davor hatte, das erste Mal in seinem Leben eine Reise ins Ausland anzutreten, seine Eltern und auch seine beiden jüngeren Geschwister seien froh darüber gewesen, dass er nach Deutschland gehen könne. "Das hat mir etwas die Angst genommen", sagt Habibi, der später einmal Arzt werden will. "Es wird sicherlich nicht ganz einfach für mich hier, denn neue Freunde werde ich wegen der Sprachprobleme wohl nicht so schnell finden", sagt der Jugendliche. Doch wenn er erst einmal seine ersten Brocken Deutsch könne, dann komme alles weitere schon von ganz alleine. "Und aufgeben werde ich nicht, denn die Chance, in Deutschland zur Schule zu gehen, die habe ich nur einmal."