Jörg Moser-Kollenda, kommissarischer Leiter der IGS Stade, über die möglichen Folgen der Einführung der Oberschule

Stade. Für das kommende Schuljahr plant die Niedersächsische Landesregierung eine umfassende Änderung in der Schulstruktur. Haupt- und Realschulen sowie Kooperative Gesamtschulen sollen künftig von den Schulträgern in Oberschulen umgewandelt werden können. Im Abendblatt-Interview spricht Jörg Moser-Kollenda, kommissarischer Schulleiter der Integrierten Gesamtschule (IGS) Stade über das geplante Konzept, dessen Bedeutung für die IGS und mögliche weitere Gesamtschulen im Landkreis Stade.

Hamburger Abendblatt:

Herr Moser-Kollenda, gelingt mit den Oberschulen der große Durchbruch in der niedersächsischen Schullandschaft?

Jörg Moser-Kollenda:

Zunächst einmal ist es gut, dass Bewegung in die Schulstrukturdebatte kommt. Wichtig ist, dass Strukturen geschaffen werden, die möglichst lange halten. Das geht natürlich nur, wenn ein parteiübergreifender Konsens gefunden wird. Eine Schulgesetzreform, die von der Opposition abgelehnt wird, hat eine kurze Haltbarkeit und wird keine Planungssicherheit geben können. Wichtig ist auch, dass Schulträgern und Schulen Freiheiten eingeräumt werden sollen, für die Situation vor Ort individuelle Lösungen zu finden. Die Erfahrung zeigt: Wo Schulen Verantwortung übernehmen und eigene Entscheidungen fällen können, werden sie in der Regel besser.

Sehen Sie auch Schwierigkeiten bei den geplanten Veränderungen?

Das Ziel der Regierungsparteien ist, langfristig ein zweigliedriges Schulsystem zu schaffen. Das wäre dann wieder in etwa der Entwicklungsstand der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Da wurde nämlich mit der Einführung der Realschule das Schulsystem in Deutschland dreigliedrig. Ich hätte mir gewünscht, man einigt sich auf das, was heutzutage international weitgehend üblich ist: ein gemeinsames Lernen aller Kinder bis Klasse Neun. Die frühe Aufteilung der Kinder nach Klasse Vier ist sozial ungerecht und verhindert, dass Talente sich gut entfalten. Ich sehe aber auch, dass es für ein solches Schulsystem zurzeit keine politische Mehrheit in Niedersachsen gibt.

Wäre die IGS als Regelschule also eine bessere Alternative?

Wie genau die Oberschule aufgebaut sein soll, ist zurzeit ja noch offen. Es ist deshalb schwierig, einen Vergleich zwischen Oberschule und IGS anzustellen. Klar erscheint jedoch schon jetzt: Die meisten Oberschulen werden ohne Gymnasialzweig laufen und damit nur einen Teil der Schülerschaft aufnehmen. Kinder mit Gymnasialempfehlung werden in der Regel nicht auf die Oberschule gehen. Auch wird die Oberschule wohl weniger Raum für gemeinsames Lernen bieten können als die IGS.

Das heißt, Sie sehen gerade in diesem Bereich noch deutliche Vorteile der IGS gegenüber der geplanten Oberschule?

Definitiv. Denn das ist ja gerade die Stärke der IGS: Sie lässt Kinder mit verschiedenen Begabungen gemeinsam lernen. Sie vermindert den Leistungsdruck, indem sie auf das Sitzenbleiben und Abschulen verzichtet und in der Regel erst ab der neunten Klasse Noten vergibt. Sie hält Schullaufbahnen offen und eröffnet damit auch Spätentwicklern und Kindern aus bildungsferneren Familien die Chance auf einen guten Abschluss. Die Leistungsstarken profitieren von ihrer Coaching-Rolle: Sie leiten an, unterstützen und lernen damit, Rücksicht zu nehmen und Verantwortung zu übernehmen. Aber vielleicht irre ich ja und die Oberschule erhält ähnliche Gestaltungsfreiheiten wie die IGS. Dann wären die Grenzen zwischen Oberschule und IGS fließend.

Wird es künftig einen Konkurrenzkampf um die Schüler zwischen diesen beiden Schulformen geben?

Das hängt von der Qualität der jeweiligen Schule ab. Eine Oberschule mit einem guten Profil kann sicherlich auch eine Alternative zur IGS sein. Dann gibt es auch eine Konkurrenzsituation. Gütekriterium für die Oberschule wird jedenfalls sein, inwieweit es ihr gelingt, den einzelnen Schüler optimal voranzubringen, Schulangst zu reduzieren, ein individuelles Lerntempo möglich zu machen und zum bestmöglichen Schulabschluss zu führen.

Sie leiten die einzige IGS im Landkreis Stade, eine weitere wird in Buxtehude eingerichtet. War es das jetzt mit den integrierten Gesamtschulen im Kreis?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir heute am Ende der Entwicklung bezüglich der IGS angekommen sein sollten. Zwei integrierte Gesamtschulen werden den Bedarf des Landkreises nicht decken können.

Aber unter den bestehenden Bedingungen sind doch weitere Neugründungen kaum zu erwarten...

Die Landesregierung will, dass IGS in der Regel fünfzügig sind, Oberschulen können dagegen auch deutlich kleiner sein. Das bedeutet faktisch: IGS wird es - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - nur in den Städten geben. Auf dem Land gibt es nur die Oberschule. Warum das so sein soll, wird nicht offen gesagt. Ich habe jedenfalls noch kein Argument für diese Bestimmung gehört. Wenn die Landesregierung bei dieser Haltung bleibt, würde es in der Bildungslandschaft zu einem Stadt-Land-Gefälle kommen. Das würde bei der Kommunalwahl im nächsten Jahr sicher Thema sein.

Das heißt, es sind noch heiße Diskussionen zwischen Verfechtern der neuen Schulstruktur und Befürwortern der IGS zu erwarten?

Bestimmt. Unruhe gäbe es vor allem auch, wenn die Oberschulen besser ausgestattet werden würden als die IGS.