Der Seehund , der im Sommer der ungewöhnlichste Passagier der Ostefähre war, wurde jetzt in der Nordsee ausgewildert

Norden-Norddeich/Brobergen. Eine Sandbank im Wattenmeer, direkt am Jadebusen. Tiefhängende Wolken ziehen bleigrau am Himmel. Leichte Schauer und mäßiger Wind, klassisches Nordseewetter. Auf der Sandbank stehen fünf Weidenkörbe in einem Gehege. Als die Körbe und das Gehege geöffnet werden, robben fünf Seehunde neugierig zum Wasser.

Plötzlich halten sie inne, wittern mit ihren Nasen in alle Himmelsrichtungen und schauen mit großen, runden Augen in eine für sie völlig neue Umgebung. Schließlich siegen ihr aber doch Instinkt und die gesunde Neugier: Wenige Momente später gleiten Brobi und seine vier Artgenossen geschmeidig durchs kühle Nordseewasser und gehen auf Erkundung. Hin und wieder tauchen ihre Köpfe aus dem Wasser auf, als schauten sie zurück, bereits beäugt von dicken Artgenossen, die aus angemessener Entfernung die Neulinge beobachten.

Findelkind Brobi, der kleine Heuler, der am 30. Juni an der Oste-Fähre in Brobergen völlig entkräftet von Fährmann Egon Oellrich gefunden wurde, hat sich zu einem stattlichen Seehund entwickelt. Artgerecht aufgepäppelt und vorbereitet auf das neue Leben in Freiheit wurde Brobi in der Seehundstation Norden-Norddeich. Als er dort ankam, wog er 8,8 Kilogramm.

Mit einem Gemisch aus Hundemilch und Fischbrei wurde er an selbstständiges Fressen herangeführt, später bekam er Fisch, den er zuletzt auch selbst im Bassin fangen musste.

30,6 Kilogramm wog Brobi, als er von seinem Pfleger Tim Fetting und dessen Kollegen ausgewildert wurde. Zunächst wurden Brobi und seine vier Kameraden Jule, Looda, Dominik und Freddie noch einmal gründlich von einem Tierarzt untersucht, damit sie nicht nur mit ordentlichen Fettreserven, sondern auch kerngesund ihr neues Leben in Freiheit beginnen können.

Für den ersten Teil des Weges zu ihrem natürlichen Lebensraum haben die Tierpfleger ihre Schützlinge in geräumige Weidenkörbe gesetzt, um sie sicher auf das Ausflugsschiff Etta von Dangast zu verladen.

"Weidenkörbe sind für diesen Transport ideal", erklärt Tim Fetting. "Zum einen sind sie besonders luftdurchlässig, zum anderen dunkeln sie das Sichtfeld der Tiere etwas ab, so dass sie weniger Stress haben."

Kapitän Anton Tapken ist mittlerweile geübt im Abschiednehmen: Mit seiner Etta von Dangast hat er schon oft Kurs auf die Kaiserbalje kurz vor dem Jadebusen genommen und auf diese Weise Touren zum Auswildern junger Seehunde gefahren.

Doch traurige Stimmung kommt nicht auf, Tierpfleger Tim Fetting und sein Team von der Seehundstation Norden-Norddeich sehen diesen Momenten sogar mit Freude entgegen. "Für uns ist es das absolute Highlight unserer Arbeit, wenn wir sehen, wie die Seehunde gesund und vital ihren natürlichen Lebensraum erobern", sagt Fetting.

"Unser Team, von der Putzfrau bis zum Chef, hat hart gearbeitet, damit diese perfekten Schwimmer ein natürliches Leben in Freiheit und in ihrem Element genießen können."

80 Heuler wurden in diesem Sommer mit viel Liebe und persönlichem Einsatz in der Seehundstation aufgezogen. Etwa fünf Tonnen Fisch wurden dafür an die mutterlosen Jungtiere verfüttert, bis sie ein ordentliches Gewicht von jeweils 25 bis 30 Kilogramm hatten, um die erste Durststrecke in Freiheit schadlos zu überstehen.

Es sei für ihn immer wieder faszinierend, wie schnell diese Wildtiere sich auf ihr neues Leben einstellen, sagt Fetting. Der angeborene, sehr ausgeprägte Jagdinstinkt der Seehunde sei quasi ihre Lebensversicherung in der weiten Nordsee. Der große Moment für die Seehunde und ihre Tierpfleger kommt freilich stets etwas unspektakulär daher: Die Weidenkörbe werden zunächst auf die Sandbank getragen und in einem mobilen Gehege abgestellt.

Sind alle Körbe an Ort und Stelle, werden sie und danach das gesamte Gehege geöffnet. Die jungen Seehunde sind zunächst meist etwas irritiert. Schließlich ist hier alles groß und weit, ganz anders als in der gewohnten Umgebung in der Seehundstation. Andere Geräusche, neue Gerüche. Sie schauen sich um, orientieren sich kurz. Und dann robben sie los, zügig und unbeirrt Richtung Wasser.

"Man merkt, dass die jungen Seehunde sich recht schnell trennen und jeder seinen eigenen Weg zum Wasser sucht", beschreibt Tierpfleger Fetting seine Beobachtungen.

"Ein Grund dafür ist, dass sie sehr schnell feststellen, dass dieses Bassin viel größer ist, als das, welches sie kennen. Aber das Wasser ist das gleiche wie in der Seehundstation. Dort wird es nämlich über eine Pipeline in die Bassins gepumpt."

Für die fünf Jungtiere der Gattung "Phoca vitulina", wie die Hundsrobben wissenschaftlich genannt werden, beginnt mit diesem Tag das große Abenteuer in den Weiten der Nordsee. "Als gewandte Jäger werden sie zunächst allem nachschwimmen, was in ihr Beuteschema passt. Sehr schnell lernen sie dann, was echte Leckerbissen sind", sagt Fetting. "Etwa 25 Jahre kann ihr Leben in freier Wildbahn dauern, wenn alles gut geht."