Ortstermin und neue Zeugenaussagen im Mordfall Swanhild S ., der vor dem Stader Landgericht neu aufgerollt wird

Neuenkirchen/Stade. Sturm peitscht Regenschwaden über die Landschaft. Es ist 21 Uhr und dunkel in Scholien, dem einsamen Ortsteil der Gemeinde Neuenkirchen, die im Landkreis Cuxhaven liegt. Unter den Regenschirmen stehen Richter und Schöffen der Zweiten Großen Strafkammer des Landgerichts Stade, sowie zwei Verteidiger und rund 25 Menschen, die an dem öffentlichen Ortstermin in der Mordsache Swantje teilnehmen wollen. Der Termin soll neue Erkenntnisse im Fall des vor 29 Jahren ermordeten Mädchens bringen, der zurzeit vor dem Gericht neu aufgerollt wird.

Im hellen BMW seiner Anwälte kommt Ferdinand H. zu jenem Ort am Rande eines Feldes, wo am 23. August 1981 Swanhild S., genannt Swantje, mit 64 Messerstichen grausam getötet wurde. Auch Ferdinand H., des Mordes an Swantje angeklagt, war in jener Nacht an diesem abgelegenen Ort und hat dort seinen genetischen Fingerabdruck hinterlassen, wie DNA-Experten des Landeskriminalamtes nachweisen konnten.

Ort wurde so hergerichtet, wie er vor 29 Jahren aussah

Ob das, was der Angeklagte bei der Polizei dazu aussagte, glaubhaft ist, wollten Kammer, Verteidiger und Staatsanwalt unter annähernd gleichen Lichtverhältnissen wie in der Mordnacht bei dieser "Inaugenscheinnahme des Leichenfundortes" prüfen. Dazu wurden dort Büsche beschnitten, der Graben am Rand des Kohlfeldes, in dem man die 21-jährige Swantje fand, vom hohen Schilf befreit. Beim diesem Ortstermin will das Gericht Licht ins Dunkel der Geschehnisse von 1981 bringen und Erkenntnisse zu den Aussagen des Angeklagten gewinnen. Konnte Ferdinand H. Swantjes dunkelblauen Mantel bei völliger Dunkelheit vom Auto aus am Straßenpfosten hängen sehen?

Dieser Mantel nämlich habe ihn bewogen, in dunkler Nacht 18 Meter in das Kohlfeld zu laufen. Dort habe er Swantjes Leiche gefunden, sie und ihre Kleidung berührt. Dann sei er wieder gegangen. Den Leichenfund habe er nicht bei der Polizei gemeldet, weil er Alkohol getrunken und daher Angst vor Konsequenzen gehabt habe.

Um diese Aussagen anhand von Indizien zu überprüfen, veranlasste Staatsanwalt Wieben, den Ort des Verbrechens originalgetreu wie am Tag des Leichenfundes herzurichten. Swantjes T-Shirt, ihre Schuhe und weitere Gegenstände wurden so platziert, wie 1981 vorgefunden, ebenso eine Puppe, die das Opfer darstellen soll.

Unter den Zuschauern, die meist aus der nahen Umgebung kommen, herrscht bedrückte Stille. "Ich hatte bei Swantje Nachhilfe, sie war so ein feines Mädchen", sagt ein Mann aus dem Nachbardorf Ihlienworth. Seine Frau ergänzt: "Wir kannten uns aus der Schule. Noch immer, wenn ich hier vorbeifahre, muss ich an Swantje denken. Ich hoffe, dass das Verbrechen endlich aufgeklärt werden kann."

Nur der Angeklagte wirkt seltsam gleichmütig. Er schlendert seinen Verteidigern zum Leichenfundort hinterher. In seinem Gesicht, das er unter einer großen Kapuze versteckt, nicht die leiseste Regung. Wie zuvor im Gerichtssaal verbirgt er sich hinter einer Mauer des Schweigens.

Zeuginnen beschrieben bizarre Wutausbrüche des Angeklagten

Zwei Zeuginnen hingegen haben am Tag zuvor Angaben zu dem Angeklagten gemacht, der erst im Jahr 2008 ins Visier der Ermittler kam, nachdem bei der Polizei ein anonymer Hinweis einging.

Die Prostituierten Kerstin H. und Christina I. beantworteten in diesem Indizienprozess wichtige Fragen. So war Kerstin H. etwa fünf Jahre lang mit dem Angeklagten zusammen. Nein, Liebe sei es nicht gewesen, eben eine Beziehung zwischen Mann und Frau, sagt die 35-Jährige, die, gezeichnet von Drogenkonsum, unsicher und verängstigt nach Worten ringt. "Alles von damals kommt wieder hoch", sagt sie. "Es gab fast täglich Streit, oft Schläge, ich bin dann durchs Fenster geflüchtet", beschreibt Kerstin H. ihre Zweisamkeit mit Ferdinand H. War sie nicht willig, entzog H. ihr den Stoff. "Er versorgte mich mit Heroin, teilte mir die Tagesrationen zu, manchmal brachte er auch Kokain, weil der Sex euphorischer werden sollte", berichtet Kerstin H., "Und ich musste bunte Mädchenkleider tragen, Sommerkleider, in denen kleine Mädchen so unschuldig aussehen".

Auch Ferdinand H.'s Unberechenbarkeit beschreibt die Frau. Besonders schlimm sei es an dessen Wohnort in Neuenkirchen gewesen, weil sie seinen Ausbrüchen dort schutzlos ausgesetzt war. "Einmal, ich hatte mir gerade einen Schuss gesetzt, entriss er mir die Spritze und stach auf mich ein. Ich versuchte ihn abzuwehren und konnte flüchten, rannte schreiend, halbnackt durch Neuenkirchen um mein Leben. Aber dort in der Einsamkeit hörte mich keiner."

Das sei in der Wohnung von Kerstin H. in Bremerhaven etwas anders gewesen, berichtet Christina I., die sich über Jahre um Kerstin H. kümmerte. "Wenn Ferdinand dort ausrastete, zum Beispiel eine Bratpfanne mit heißem Fett nach uns warf, weil wir uns im Wohnzimmer unterhielten, dann kamen Männer aus dem Haus zu Hilfe", sagt Christina I. "Vor denen hatte Ferdinand Angst, es genügte schon, wenn sie zu hören waren. Aggressiv war er nur gegen uns Frauen."

Verteidiger Horst Wesemann wird unruhig: "Das wollen wir hier alles nicht hören", fällt er der Zeugin ins Wort. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er die Aussagen einer Prostituierten für wenig glaubwürdig hält. Er verlangt, dass sie vereidigt wird. Doch die Kammer lehnt ab. Auch dem Staatsanwalt fährt Wesemann bei der Zeugenbefragung ungehalten in die Parade. Die Frauen hingegen zeichnen übereinstimmend ein Bild, das seinen auf Undurchschaubarkeit bedachten Mandanten unter neuen Aspekten zeigt.

In den nächsten Prozesstagen werden weitere Zeugen gehört werden. Dann werden auch die Ergebnisse der nächtlichen Ortsbegehung in Scholien ausgewertet.