Die Bewegung “Il canto del mondo“ will das Singen im Alltag der Menschen verankern

Buxtehude. Ein Lied, gesungen auf einem einsamen Weg in dunkler Nacht. Es beruhigt, nimmt die Angst, verleiht Sicherheit und zeigt uns allen: Irgendwie geht es uns besser, wenn wir singen. Thomas Jüchter aus Buxtehude geht sogar noch einen Schritt weiter. Der Musiktherapeut ist sich sicher, dass das Singen eine Kraftquelle ist, die Energie und Lebensfreude schenkt und zu einem ungemein guten Gefühl tief in unserem Innern beiträgt.

Er hat deshalb eine Gruppe in Buxtehude gegründet, die von der Canto-Bewegung inspiriert ist. Einmal wöchentlich treffen sich die Sänger immer dienstags um 20 Uhr im Forum der Buxtehuder Lebenshilfe und singen Chants und Mantras aus aller Welt. Dabei geht es nicht darum, ausgefeiltes Liedwerk zu erlernen und als Chor aufzutreten, sondern darum, der Stimme mit einfachen Klangfolgen, die sich immer wieder wiederholen, freien Lauf zu lassen, ihre Schwingung zu spüren und so den ganzen Körper bewusster wahrzunehmen.

"Viele Leute denken, dass ihnen das viel zu esoterisch ist", sagt Thomas Jüchter. Canto, Chants, Mantras - das hört sich zunächst nach Räucherstäbchen, Batikhemd und Grünem Tee an. Wenn man den 46 Jahre alten Familienvater aber so sieht, verfliegt dieser Eindruck schnell. Er hat eine Gitarre unterm Arm, trägt Jeans, Karohemd und ein Bärtchen am Kinn. Ganz geerdet wirkt der gebürtige Wildeshauser, und wenn er sagt, dass viele Leute schlichtweg ihre Stimme verloren haben, und er helfen will, dass sie sie wiederfinden.

"Dann mal los" haben die Initiatoren der Canto-Bewegung um den Musiksoziologen Karl Adamek gesagt, als sie das internationale Netzwerk "Il canto del mondo" im Jahre 1998 ins Leben riefen. Schirmherr wurde der Violinist und Dirigent Yehudi Menuhin. Sie wollten das Singen wieder stärker in den Alltag der Menschen verankern, und in dieser Tradition sieht sich auch Jüchter.

Obwohl Musik in den Medien allgegenwärtig ist, werden zugleich immer mehr Menschen im wahrsten Sinne des Wortes sang- und klanglos. "50 Prozent der Deutschen sind gesangstraumatisiert", sagt er. In der psychosomatischen Klinik "Ginsterhof" in Tötensen, wo er als Musiktherapeut regelmäßige offene Singveranstaltungen leitet, seien es sogar 80 Prozent. Irgendwann hätten ihnen einmal Lehrer oder Chorleiter gesagt, dass sie nicht singen können - und dann sind sie für immer verstummt.

Jüchter hält das Nicht-Singen-Wollen aber auch für ein typisch deutsches Phänomen. Die Erfahrungen des Nazi-Regimes, das Lieder für seine Zwecke missbrauchte, hätten seiner Meinung nach dazu beigetragen, dass die Deutschen dem Gesang gegenüber kritisch wurden und es lieber einstellten, die alten Volkslieder zu singen. In anderen Ländern, sowohl in Nord- als auch Südeuropa, sei das Singen hingegen fester Bestandteil des Lebens. Singende Fischer in Griechenland seien keine Seltenheit, und wer in irische Kneipen einkehrt, werde mitunter Zeuge spontaner Sangesdarbietungen.

Wie also kann das Singen zurück nach Deutschland geholt werden? Wie kann man die Scham überwinden, die für viele mit dem Gesang verbunden ist? Jüchter glaubt, das könne nur in kleinen Schritten geschehen. Mit einfachen Liedern, die jedermann erlernen kann. "Viele Menschen müssen sich erst einmal lockern." Wenn sie dann offen sind für die Kraft der Klänge, öffne sich ihnen gleichermaßen das Herz.

Dabei hat der Gesang vor allem aus medizinischer Sicht eine positive Wirkung. "Wenn wir singen, atmen wir tiefer, und das trägt zur Entspannung bei", sagt Jüchter. Endorphine, die eine antidepressive Wirkung haben, werden vermehrt ausgeschüttet, ebenso das Liebeshormon Oxytocin, das uns fürsorglicher und empfindsamer werden lässt. Durch die bessere Durchblutung der Organe aufgrund der erhöhten Sauerstoffzufuhr empfinden wir zudem weniger Schmerz. Ängste lassen nach.

"Singen ist Nahrung für die Seele", sagt auch Monika Rieper, Erste Vorsitzende des Kreis-Chorverbands Stade. Sie will die Leute ebenfalls dazu ermuntern, einfach mal ein Lied anzustimmen, selbst wenn es vielen schwerfällt. "Manche haben noch nie Berührung mit Gesang gehabt."

Das schlägt sich auch in den offiziellen Mitgliederzahlen der Chöre nieder. Zurzeit gehören dem Verband 17 gemischte Chöre, zwei Frauenchöre, acht Männerchöre, vier Kinderchöre, ein Gospelchor und eine Kinder-Instrumentalgruppe an. Insgesamt ergibt das 1322 Einzelmitglieder. Auch wenn es noch einige kirchliche und private Gruppen gibt, die im Verband nicht erfasst sind, weiß Monika Rieper, dass die Zahl vor allem bei den etablierten Erwachsenengruppen rückläufig ist.

Nachwuchs rückt selten nach, selbst wenn sich einige neue Kinderchöre etabliert haben. Die Jüngeren können mit dem klassischen Liedgut der Älteren wenig anfangen. Abba und Gospel sind eben gefragter als Bach und Händel. Sie glaubt dennoch, dass vor allem die Chorleiter in dieser Hinsicht viel bewirken können.

"Man muss den Leuten einfach unterschiedliche Sachen anbieten." Und dann würden sie auch den Weg in die Chöre finden. Mögliche Hemmschwellen ließen sich ihrer Meinung nach dadurch überwinden, dass man die Leute erst einmal in Ruhe ausprobieren und den Gesang kennenlernen lasse.

Dass bei einigen eine feste Chorstruktur abschreckend wirkt, vermutet Monika Rieper dennoch. Zeitlich gebundene Projekte würden eher Zuspruch finden. Diese Erfahrung hat auch Thomas Jüchter gemacht. Seine dienstägliche Cantogruppe hat er deshalb gleich nur für ein halbes Jahr angelegt. Für den Oktober plant er zudem eine Nacht der spirituellen Lieder im Paulussaal.

"Sänger haben ein gesunderes und glücklicheres Leben", ist sich Musiktherapeut Jüchter sicher. Er würde jedem raten, einfach drauf los zu singen, im Auto, auf dem Fahrrad, unter der Dusche. Da wäre es auch kein Beinbruch, wenn nicht jeder Ton sitzt. Jüchter hat da eine ganz pragmatische Meinung: "Es gibt keine falschen Töne, sondern nur Variationen."

www.cantokreise.de