Uwe Boldt galt lange als Analphabet. Heute hilft der 53-Jährige anderen. In Niedersachsen helfen fünf regionale Grundbildungszentren.

Gigantische Schiffsschrauben, tonnenschwere Eisenbahnwaggons - was Uwe Boldt anpackt, kann nicht groß genug sein. Als Hafenfacharbeiter im Hamburger Container-Terminal Altenwerder verlädt er jenes Frachtgut, das die üblichen Containermaße übersteigt. 70 Tonnen Gewicht kann sein Gabelstapler spielend heben, mit dem er durch die weitläufigen Hafenanlagen kurvt. Der 53-Jährige hat ein sympathisches Lachen, einen festen Händedruck und sieht aus wie ein Mann, der zupackt.

Zu schaffen machen ihm eher kleine Dinge. Buchstaben zum Beispiel. Uwe Boldt kann nicht richtig lesen und schreiben. Damit ist er längst nicht allein. Etwa 7,5 Millionen Menschen in Deutschland müssen als Analphabeten gelten. Das ergab eine neue Studie der Universität Hamburg. Das Ergebnis war für viele Bildungsexperten ein Schock. Bis zum Erscheinungstermin der Studie im vergangenen Jahr gab es keine belastbaren Daten. "Vor der Studie gab es nur Schätzungen. Und die gingen von vier Millionen Betroffenen aus", sagt Anke Grotlüschen, Professorin an der Universität Hamburg. Die Erziehungswissenschaftlerin hat die Studie geleitet und 8436 Testpersonen bundesweit zu ihren Schreibkenntnissen befragt. Interviewer nahmen dafür bei den Testpersonen am Küchentisch Platz.

Mit dem Resultat, dass 14,5 Prozent aller Erwachsenen in Deutschland nicht ausreichend lesen und schreiben können, liegt Deutschland hinter anderen europäischen Ländern zurück. Neun Prozent der Franzosen gelten als Analphabeten, 16 Prozent der Briten beherrschen ihre Schriftsprache nicht. Inzwischen hat die Politik hierzulande reagiert. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung stellt bis 2014 insgesamt 20 Millionen Euro für arbeitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung bereit. Auch auf Länderebene soll das Angebot für Analphabeten verbessert werden. In Niedersachsen wurden fünf Standorte, an denen seit Jahren Alphabetisierungsarbeit geleistet wird, zu regionalen Grundbildungszentren ausgebaut. Einer davon ist Lüneburg.

+++ Hier finden Betroffene Hilfe +++

An der Volkshochschule (VHS) werden seit mehr als 30 Jahren Alphabetisierungskurse angeboten. Nun soll mit dem Com-Café ein zusätzliches Angebot die Hemmschwelle zur Teilnahme senken. Computer sind heute aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Insofern ist das neue Angebot der VHS nur konsequent: Im Com-Café können Betroffene mittels eines sprachgesteuerten Programms mit einem individuell zugeschnittenen Lehrplan lernen. Sechs Notebooks, ausgestattet mit Kopfhörern, stehen mittwochs von 16.30 bis 18 Uhr und freitags von 13.30 bis 15 Uhr bereit. Begleitet werden die Nutzer von Gabriele Endrich, die das Programm gut kennt.

"Viele Betroffene erbringen jeden Tag unglaubliche Kompensationsleistungen, um ihre Schwäche zu verstecken", sagt Stefanie Voß-Freytag. Die Programmbereichsleiterin an der Volkshochschule Lüneburg beschäftigt sich seit zwei Jahrzehnten mit dem Thema Alphabetisierung. "Viele entwickeln ein sehr gutes Gedächtnis, um sich im Alltag zurechtzufinden. Viele schaffen einen Schulabschluss und gehen Berufen nach. Ihr Defizit fällt einfach nicht auf." Die Statistik gibt Stefanie Voß-Freytag recht: Mehr als die Hälfte der Betroffenen ist berufstätig. Mitunter wisse nicht einmal der Partner, dass der Betroffene kaum schreiben und lesen kann, sagt Voß-Freytag.

Auch Uwe Boldt beherrschte das Versteckspiel perfekt. Einkaufszettel schrieb er ebenso wenig wie Postkarten mit Urlaubsgrüßen. Der 53-Jährige ist das, was Wissenschaftler wie Anke Grotlüschen funktionale Analphabeten nennen. Das sind Menschen, die in der Lage sind, einzelne Wörter und kurze Sätze zu schreiben und zu lesen. Aber es fällt ihnen schwer, Texte zu verstehen und einen Sinnzusammenhang herzustellen.

Die Frage nach der Ursache für das Defizit führt nicht zu einer eindeutigen Antwort. Uwe Boldt zuckt mit den Schultern. "Ich war nicht häufiger krank als andere", sagt er über seine Schulzeit. Auch Klassenarbeiten habe er wie jeder andere mitgeschrieben. Sicher, das Lernen sei anderen vielleicht leichter gefallen. Sein Schulabschluss hat immerhin für seinen Traumjob gereicht.

"Ich hab' mich durchs Leben geschlängelt", sagt Boldt und lacht. In seinem Beruf qualifizierte er sich weiter, machte den Führerschein und eine Zusatzausbildung. Er darf besonders gefährliche Güter transportieren. "Zum Glück gab es viele Prüfungen, in denen man aus den Vorgaben die richtige Antwort aussuchen musste. Aber es war schon sehr anstrengend." Den Mut, sich seinem Problem zu stellen, hatte der gebürtige Hamburger im Alter von 30 Jahren. Er offenbarte sich seinem Hausarzt, aber zur Volkshochschule mit ihren Alphabetisierungskursen wollte er nicht gehen. "Das war ein rotes Tuch für mich." Die Initialzündung kam vor mehr als zehn Jahren auf dem Theaterlernfest in Lüneburg. "Da stand das Alfamobil, und da bin ich hin. Von da war der Weg zur VHS nicht mehr weit."

Seitdem drückt Boldt, der inzwischen nach Lüneburg gezogen ist, zweimal in der Woche nach der Arbeit die Schulbank und übt Lesen und Schreiben. Mit seinen Fortschritten ist er zufrieden. "Es ist mitunter schwer, vor allem in den Wintermonaten ist es hart", sagt Uwe Boldt, der im Schichtdienst arbeitet. 80 Frauen und Männer sind zurzeit in sieben verschiedenen Alphabetisierungskursen an der VHS Lüneburg eingeschrieben. Die Ergebnisse des gerade veröffentlichten Nationalen Bildungsberichts legen nahe, dass vor allem die älteren Generationen verstärkt mit dem Problem Analphabetismus zu kämpfen haben. Unter heutigen Schülern tauche das Problem seltener auf. "Die Schulen haben offenbar ihre Hausaufgaben gemacht", sagt Anke Grotlüschen.

Dass er Probleme mit dem Lesen und Schreiben hat, wussten Uwe Boldts Kollegen lange nicht. "Das ist durch einen dummen Zufall rausgekommen", sagt er und grinst wie jemand, der noch eine Pointe in petto hat. Denn es war mitnichten ein dummer Zufall, sondern ein geplanter Paukenschlag. Am Ende konnte ganz Deutschland Uwe Boldt bei seinem täglichen Kampf mit den Buchstaben beobachten. Elf Tage hatte ihn ein Kamerateam rund um die Uhr begleitet. Worum es in der Fernseh-Reportage mit dem Titel "Gemeinsam stark" ging, wurde den Kollegen erst bei der Ausstrahlung klar. Ein bisschen mulmig vor den Reaktionen war ihm schon, sagt Uwe Boldt. "Ja sicher, das war kein besonders schöner Moment. Die Kollegen waren überrascht. Auch meine beiden Chefs waren perplex. Aber letztlich habe ich jede Menge positive Resonanz bekommen."

Heute geht Uwe Boldt offensiv mit seiner Schwäche um. Zwar seien noch nicht alle seine Texte fehlerfrei, aber inzwischen müsse er sich viel mehr aufschreiben als früher, um nichts zu vergessen. Im Rückblick fühlt sich der 53-Jährige nach seinem Outing erleichtert. Noch immer besucht er Kurse, bildet sich an seinem Computer weiter und engagiert sich für andere Betroffene. Der Hafenfacharbeiter hält Vorträge vor Lehramtsstudenten und besucht Konferenzen für den Bundesverband Alphabetisierung. "Zuletzt habe ich einem Kollegen erklärt, welche Möglichkeiten es gibt, das Problem anzugehen. Im Gespräch mit Betroffenen kommt es auch auf Fingerspitzengefühl an", sagt Boldt. "Wir sind ja nicht dumm, das vergessen viele."