Zu wenig jüngere Lehrer: Pensionärin Karin Alberts, 72, unterrichtet immer noch Latein. Manchmal wundert sie sich über die Schüler von heute.

Harburg. Sie sei doch gar nichts Besonderes, das ist Karin Alberts, 72, wichtig, das will sie klarstellen. "Ich gestalte den Unterricht ja auch nicht viel anders als die jungen Kollegen." Doch. Macht sie. Das sagen zumindest ihre Schüler, die Schüler der Klassen 9c und d am Heisenberg-Gymnasium in Harburg. Bei ihr schrieben sie mehr Tests als bei anderen Lehrern. Die Anforderungen seien höher als bei den anderen Lehrern. Und konsequent ist sie. Als der Unterricht begonnen hat, dauert es keine fünf Minuten, bis sie den ersten Schüler umsetzt. 15 Minuten später fordert sie den nächsten Jungen auf, sich auf einen anderen Platz zu setzen. Ihr Prinzip: Principiis obsta! - Wehre den Anfängen!

Die zierliche Gestalt in schwarzem Leinenrock, grau-grüner Strickjacke und mit fünf Ringen an ihren Fingern ist das, was man gemeinhin als streng bezeichnet. Liegt das an ihrer Erfahrung, am Alter? Karin Alberts ist eine pensionierte Lehrerin. Sieben Jahre lang hätte sie es sich nun schon ohne Arbeit gut gehen lassen können. Doch es kam anders.

Denn Latein ist ein Mangelfach. Das war schon 2005 so. Das heißt: Ausgeschriebene Stellen bleiben oft unbesetzt. "Lateinlehrer werden in den meisten Bundesländern gesucht", sagt Peter Albrecht, Sprecher der Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung. Die führt zwar nicht jährlich eine Statistik über offene Lateinlehrerstellen. Es gibt aber eine Auswertung aus dem Jahr 2011, wonach insgesamt 19 ausgeschrieben waren, von denen dann nur 17 besetzt werden konnten. Für die zwei offenen Stellen fanden sich erst ein Jahr später die Lehrer.

Hamburg als attraktive Stadt kann bei Bewerbern zwar punkten, anders als manche Kleinstädte in Niedersachsen. Doch Rolf Harms, Direktor des Heisenberg-Gymnasiums, fand vor sieben Jahren trotzdem keinen Bewerber. Zwei seiner Lateinlehrer hatten die Schule verlassen. Seine Stellenausschreibungen blieben erfolglos. Und so kam es, dass er eines Tages auf Karin Alberts aufmerksam wurde, die damals noch am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium unterrichtete und kurz vor der Pensionierung stand.

Für sie war der Ruhestand alles andere als eine verlockende Perspektive. Sie wollte nicht aufhören. "Es ist so wohltuend, mit Jugendlichen zusammenzuarbeiten", sagt sie. Dann ging alles ganz schnell. Sie rutschte quasi von der Verabschiedung gleich wieder in den Unterricht.

Für Schulleiter Rolf Harms ist sie ein Glücksfall. Ein guter Unterricht habe nichts mit dem Alter des Lehrers zu tun, sagt er. Er will Karin Alberts so lange beschäftigen, wie sie mag. "Dass sie die Kraft entwickelt hat, bis 65 zu arbeiten und dann noch weiterzumachen, wirft ein ausgesprochen positives Licht auf sie", sagt er.

Kraft hat sie. Widrigkeiten sind für sie kein Hindernis, sondern eine Herausforderung. Deshalb hat sie wohl auch die schwierige Situation in ihrem Lateinkursus im vergangenen Jahr gemeistert. Nachdem sie von 2010 bis 2011 pausiert hatte, weil eine junge Kollegin aus dem Mutterschaftsurlaub zurückgekommen war, sah sie nach ihrer eigenen Rückkehr eine neu zusammengewürfelte Gruppe vor sich. Denn die Lateinkurse wurden neu zusammengesetzt. Die Motivation mancher Schüler war am Boden, einige sperrten sich gegen ihre Unterrichtsangebote, und drei Viertel der Jugendlichen erledigten monatelang ihre Hausaufgaben nicht. Aber Alberts gab nicht auf. Sie warf ihr Unterrichtskonzept komplett um, und jetzt ist nicht mehr sie diejenige, die Hausaufgaben aufgibt. Die Schüler suchen sie sich selbst aus.

In der Praxis funktioniert das so: Auf einem Tisch liegt ein roter Ordner mit lauter Aufgabenzetteln zum Wortschatz, zur Grammatik, zur römischen Geschichte. Die Schüler ziehen aus dem Ordner die Aufgaben heraus, die sie interessieren. Die Vorlieben der Schüler hat die Lehrerin vorher abgeklopft, indem sie ihnen eine Liste mit Aufgabenmöglichkeiten vorgelegt hat, auf der die Schüler ihre Kreuzchen machen mussten. "Ich bin dann als Beraterin da, kontrolliere die Ergebnisse, verweise auf die Musterlösung und führe Buch", sagt Karin Alberts.

Ihre Kontrolle hat die Farbe Rot. Nahezu unter jedem Arbeitszettel der Schüler steht eine Bemerkung in sauberer roter Handschrift. "Eine ansehnliche Sammlung" lobt sie beispielsweise ein Mädchen, das zu den leistungsstarken Schülern zählt und Produkte mit lateinischem Ursprung aufgelistet hat. Doch auf das Lob folgt die Aufforderung, noch besser zu werden. "Leider erläuterst du die Produktnamenwahl nur selten", schreibt Karin Alberts und fordert eine genaue Analyse und Begründung. Damit die Schülerin weiß, was damit gemeint ist, erklärt sie es noch anhand eines Beispiels. Sie will sichergehen, dass die Schüler den Stoff verstehen. Dafür investiert sie Zeit. Und viel rote Farbe.

Das kostet sie pro Woche sieben Stunden zusätzlich zu den drei Unterrichtsstunden. Einiges aber lässt sich nicht mit Anmerkungen erklären, und dann bittet sie die Schüler darum, im Unterricht zu ihr zu kommen. Und so reihen sich im Laufe der Lateinstunde die Schüler vor ihr auf und warten brav, bis sie dran sind und die Fragezeichen auf ihren Zetteln klären können.

Die Resonanz ist gemischt. "Einige Schüler stürzen sich auf das selbstständige Arbeiten und wollen sich profilieren", sagt Karin Alberts. "Andere sind es gewohnt, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen." Das Scheuen von Anstrengung ist etwas, das Karin Alberts nicht versteht. Vielleicht weil sie es selbst nicht kennt. Ihr Motto: Nolens volens - ob man will oder nicht, man muss es tun.

Sie findet es unbegreiflich, dass die Geografiekenntnisse noch nicht einmal so weit reichen, dass die Schüler annähernd die Grenze der EU ausmachen könnten, um sie mit dem Imperium Romanum vergleichen zu können. Immer wieder spricht sie von einem "sehr verbreiteten Halbwissen".

All die Lücken sind ihr ein Rätsel. "Die Schüler sind im vierten Lernjahr. Eigentlich müssen sie sich dann nicht mehr um den Wortschatz kümmern. Aber es ist keiner da." Manchmal schimpft sie, wenn sie nicht mehr in der Klasse steht: "Faul, fauler, am faulsten" und "Schlummis". Aber im Unterricht behält Karin Alberts immer die Haltung und bleibt höflich. In ihrer ganzen Laufbahn sei es bisher erst einmal vorgekommen, dass sie gebrüllt hat, sagt sie, und dabei hat sie sich wahrscheinlich selbst mehr erschrocken als die Schüler.

Die guten Schüler sind voll des Lobes. "Man lernt was", sagt Melanie Martschke, 14, aus Eißendorf. Auch Ole Schneider, 14, aus Eißendorf und Moritz Grabe, 14, aus Heimfeld empfinden die zahlreichen Tests als nicht so tragisch, "da sie ja gut auf die Klausuren vorbereiten". Selbst die Schüler, die über die harten Anforderungen klagen, können der strengen Lehrerin auch etwas Positives abgewinnen. "Sie hat keine Vorurteile, auch wenn man schlecht ist in Latein. Sie nimmt einen ernst", sagt Andreas Lück, 15 aus Bostelbek.

"Sie wissen es nicht besser", sagt Karin Alberts. "Das wichtigste Ziel ist: Die Schüler können etwas leisten. Wenn es nicht mehr so viel ist wie vor zehn Jahren, dann ist es eben nicht mehr so viel." Nihil fit sine causa - nichts geschieht ohne Grund.