“Dreugt Fisch“ ist eine Delikatesse von der Elbinsel Finkenwerder. Uwe Fock ist der einzige, der die Spezialität noch herstellt. Fischer war er jedoch nie.

Finkenwerder. Das Messer wird kurz hinter dem Kopf angesetzt. Ein schneller halbkreisförmiger Schnitt, eine Vierteldrehung, ein beherzter Ruck - und schon löst sich der Kopf vom Körper. Die Innereien hängen mit dran. Der Kopf fliegt in eine kleine Wanne, der Körper in eine größere. Mit etwas Übung geht Schollenschlachten schnell.

Uwe Fock hat Übung. Er ist Finkenwerders letzter Schollentrockner und hat heute noch zwei Zentner Fisch an die Leine zu bringen. "Dreugt Fisch" heißt die Spezialität auf Finkenwerder und ist so auf der Welt tatsächlich einmalig. Woanders werden Seelachs und Kabeljau getrocknet, und - bevor er unbezahlbar wurde - gelegentlich auch mal ein Schellfisch. Aber getrocknete Scholle gibt es nur auf der Elbinsel Finkenwerder - und da auch nur noch bei Uwe Fock.

Der 71-Jährige sitzt vor der Garage seines Vaters auf einem alten Bürodrehstuhl und enthauptet die Plattfische im Sekundentakt, in der Hand ein handelsübliches Kartoffelmesser, vor sich einen Hocker mit einem daraufgeschraubten Hackbrett. Darum verteilt stehen Wannen und Eimer: frischer Fisch, Köpfe, geschlachtete Schollen - im Uhrzeigersinn. Etwa eineinhalb Stunden wird er für die zwei Zentner brauchen. Danach werden die ausgenommenen Fische eingesalzen.

Bis es soweit ist, herrscht reges Treiben auf dem Hof hinter Focks Elternhaus: Die Finkenwerder wissen, wann es hier etwas zu kaufen gibt. Solange die Fische noch nicht eingesalzen sind, gibt Uwe Fock die Schollen auch roh ab - geschlachtet oder ganz wie die Käufer es wollen. "Es gibt ja keinen Fischhändler mehr auf Finkenwerder", sagt Fock. "Deshalb sage ich im Bekanntenkreis immer Bescheid, wenn ich zum Fischmarkt fahre und bringe etwas mit."

Die Kundschaft ist anspruchsvoll: Die meisten sind ehemalige Fischer und wissen, was gut ist. Außer Scholle zum Beispiel Rochen, nur dass Uwe Fock an diesem Tag schon wieder keinen gekriegt hat, was einen seiner Kunden besonders ärgert, der sich seit Monaten wünscht, mal wieder einen Stachelrochenflügel in der Pfanne zu haben. Uwe Fock weiß auch, warum es kaum mehr Rochen auf dem Fischmarkt gibt: "Auf den großen Schiffen wird alles weggeschmissen, was nicht mit der Maschine am Fließband geschlachtet werden kann", sagt er. "Wir haben früher auch nie Rochen mitgebracht - allerdings nur, weil wir den gleich an Bord gegessen haben."

Auch wenn Uwe Fock an so einem Morgen von Fischern umgeben ist: Er selbst ist keiner. Sein Vater Heinrich ist der älteste noch lebende Fischer Finkenwerders, sein Bruder war Fischer, aber Uwe Fock war für die Fischerei nicht geschaffen. "Als Kind war ich in den Ferien ja immer mit auf Fangreise", sagt er, "aber von 14 Tagen war ich mindestens neun Tage seekrank. Außerdem wollte ich auch etwas mehr von der Welt sehen als Skagerrak und Kattegat."

Also wurde Uwe Fock Kaufmann und landete als solcher bei der Finkenwerder BP-Raffinerie. Als die geschlossen wurde, war er 54 Jahre alt und kam in den Genuss einer großzügigen Vorruhestandsregelung. "Aber rumsitzen und aus dem Fenster oder in den Fernseher zu gucken, ist nicht meine Sache", sagt er. So kam Uwe Fock auf seine alten Tage doch noch zum Fisch.

Dass er die Trockenleinen hinter dem Haus gespannt hat, entspricht nicht ganz der Finkenwerder Tradition. "Wir haben die Schollen früher gleich an Bord zum Trocknen aufgehängt", erinnert sich Heinrich Fock, der es genießt, dass so viele alte Fahrensleute bei der Familie zum Klönen vorbeikommen. Der Altfischer selbst ist nicht mehr so gut zu Fuß. Das Trocknen an Bord habe noch einen Vorteil gehabt, meint der 92-Jährige. "Auf See hast du keine Fliegen."

Die Fliegen sind ein echtes Problem. Deshalb trocknet Uwe Fock die Schollen auch nur noch von April bis Anfang Juni. "Wenn die Fliegen erst mal da sind, muss man jeden Tag in die Fische gucken und gegebenfalls Eier rauskratzen", sagt er. "Und nach zweimal auskratzen kann man den Fisch eigentlich auch wegschmeißen."

Das große Ziel des Schollentrockners ist das Finkenwerder Schollenfest, das am Sonnabend, 19. Mai, wieder im ehemaligen Finkenwerder Kutterhafen am Stack gefeiert wird. Jedes Jahr herrscht dort großer Andrang, die Finkenwerder Spezialität ist bei vielen Besuchern beliebt. "600 Bund dreugt Fisch will ich bis dahin fertig haben", sagt Uwe Fock. Er denkt dabei nicht an sich: Die Überschüsse aus dem Fest gehen an den Förderkreis Haus der Jugend, der den Finkenwerder Kulturdampfer "Altenwerder" betreut und betreibt.

Für diesen Tag ist Uwe Fock mit dem Schlachten fertig. Nun geht es ans Einsalzen. Vorher werden die Schollen aber noch zusammengeklammert, je zwei Stück, Rücken an Rücken. Fock verbindet die Schollenschwänze mit Schweinekrampen. Auch das ist ein Zugeständnis an das Trocknen an Land. "Auf dem Kutter wurden die Schollen mit der Netznadel zusammengenäht", sagt er. Kutter und Netze sind in Finkenwerder allerdings passé. Die letzten Fischer der Elbinsel fahren als angestellte Seeleute auf Trawlern und Fabrikschiffen.

Uwe Fock muss seine Schollen auf dem Fischmarkt holen. Zweimal pro Woche fährt er im Frühjahr zum Fischgroßhändler seines Vertrauens. "Mit dem habe ich großes Glück gehabt. Der hat Sinn für Qualität."

Mittlerweile ist die Plastikwanne gefüllt mit zusammengehefteten Schollen. Jetzt kommt das Salz - ein Pfund Salz für zehn Pfund Fisch. Uwe Fock rührt das Salz in Wasser ein und gießt es über die Schollen, bis sie knapp bedeckt sind. Zwei Stunden müssen sie jetzt in der Lake liegen.

Dann geht es an die Leine. Die ist mit einem Ende direkt am Deich befestigt. Als der Auedeich vor 15 Jahren erhöht wurde, wurde für das Focksche Fischerhaus eine Aussparung im Deichfuß gelassen und mit Spundwänden abgestützt. "Darum habe ich gleich beim Bau gebeten, dass Ösen an die Wand geschweißt werden", sagt Uwe Fock. So half das Amt für Strom- und Hafenbau seinerzeit, eine Finkenwerder Tradition zu wahren.

Zweieinhalb Tage werden die Schollen im Wind schaukeln, dann geht es zur letzten Station: Uwe Focks Dachboden in der Finkenwerder Altstadt. Dort trocknen die Fische ganz durch und bleiben hängen, bis sie verzehrt, verschickt oder verkauft werden. Manche Scholle hat noch einen weiten Weg vor sich. "Dreugt Fisch" fliegt von der Elbe aus schon mal bis nach Singapur oder Quebec - Exil-Finkenwerder gibt es überall. "Manchmal ist das Porto teurer, als der Fisch", sagt Fock, "aber gegen das Heimweh hilft die Scholle bestimmt."

Gegessen wird die Trockenscholle überall auf die gleiche Art: Vom Schwanz her wird die Haut abgezogen, dann schneidet man sich dünne Streifen vom Fisch ab und kaut sie lange und genüsslich. Schnaps hilft beim Kauen, so meinen erfahrene Genießer des trockenen Fischs, macht aber auf die Dauer dumm. Es geht auch ohne, dann dauert es nur länger.

Bis im Juni die Fliegen kommen, wird Uwe Fock noch zweimal in der Woche Fische an die Leine bringen. Auch danach muss er nicht aus dem Fenster gucken: Er und seine Frau Anke sind dreifache Großeltern. "Seit die Enkel da sind, entdecke ich die Stadt wieder neu", sagt er. "Das ist unbezahlbar".

Außerdem fährt Uwe Fock, auch im Rest des Jahres ungefähr einmal im Monat zu seinem Fischgroßhändler und holt frische Ware für Freunde und Nachbarn. Dann sitzt der letzte Schollentrockner Finkenwerders wieder vor der Garage seines Vaters und setzt das Messer kurz hinter dem Kopf an.