Spektakuläre Funde, die die Menschheitsgeschichte geprägt haben. Professor Rainer-Maria Weiss stellt sie vor. Heute: Der Becher aus den Boberger Dünen.

Harburg. Beschaulich muss es im Sommer 6500 vor Christus in den Boberger Dünen bei Lohbrügge gewesen sein. Die Menschen fischten in der nahe gelegenen Bille, fertigten sich Pfeile für die Jagd an und saßen abends am wärmenden Feuer - sagt Rainer-Maria Weiss, Direktor des Archäologischen Museums, und nimmt ein tönernes Gefäß zur Hand, das mit eingeritzten Ornamenten verziert ist - für Keramik-Liebhaber ein Hingucker. "Dieser schöne Becher veränderte alles für diese Jägergruppe", sagt er.

1951 wurde das tönerne Gefäß bei Grabungsarbeiten in den Boberger Dünen gefunden, zusammen mit weiteren Scherben und einem Bruchstück von einer Felsgestein-Axt.

Die Boberger Dünenlandschaft ist in der ausgehenden Weichseleiszeit entstanden, als durch Verwehung der Schmelzwassersande aus dem Elbe-Urstromtal eine bis zu 50 Meter hohe Dünenkette aufgetürmt wurde. Während der mittleren Steinzeit ragten in der Billeniederung, dort, wo sich heute Lohbrügge befindet, einzelne Sandhorste heraus. Sie waren durch Priele getrennt, die als Wasserwege eine Verbindung über die Bille zur Elbe ermöglichten.

Bei Jägern und Sammlern war die Gegend ein beliebtes Revier.

+++ Aktion zum Mitmachen +++

Eine der Boberger Dünenkuppen wurde nur während eines Sommers von einer Gruppe aufgesucht. Um eine Hütte mit Feuerstellen fanden Archäologen unter anderem Kernsteine und Pfeilspitzen. Der verzierte Keramikbecher wurde indes nicht von der Dünen-Gruppe getöpfert, sondern von einer viel weiter entwickelten Gemeinschaft, die einen völlig anderen Lebensstil als die Jäger und Sammler pflegten. "Es handelt sich um Bauern aus Mitteldeutschland, Angehörige der so genannten Rössener Kultur - eine jungsteinzeitliche Gruppe in West-, Südwest- und Mitteldeutschland, benannt nach einem großen Gräberfeld in Rössen bei Leuna", so Weiss. Sie folgte zeitlich auf die jüngere Bandkeramik-Kultur und übernahm von dieser die Steingeräte und die Wohnweise in großen Langhäusern. "Typisch für die Rössener Kultur sind die Keramikerzeugnisse, die mit flächendeckendem Dekor aus tiefen Einstichen versehen sind. Die Gefäße hatten einen kugeligen Boden und waren meist reich verziert mit großflächigen Dreiecksmustern, Vierecken und Zickzackbändern."

Das, so Weiss, war ein absolutes Novum für die Boberger, ebenso wie die gefundenen Reste einer durchbohrten und geschliffenen Axt. Die Jäger und Sammler wurden zum ersten Mal mit einer sesshaften, von der Landwirtschaft geprägten Lebensweise konfrontiert: Die Rössener Bauern wohnten in festen Häusern, hielten Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine. Sie säten Zwergweizen, Emmer - eine Weizenart, Einkorn und Nacktgerste aus, backten Brot - all das kannten die Menschen an ihrem Lagerplatz in den Boberger Dünen nicht. Außerdem trieben sie Handel, erkundeten mit ihren Booten die Regionen an der Elbe - und müssen irgendwann auch bei den Dünen ans Ufer gepaddelt sein. "Ihr Erscheinen muss für die Boberger Gruppe ein Kulturschock gewesen sein - nicht anders, als im 18. Jahrhundert Kapitän James Cook mit seiner Seglerbesatzung auf den Inseln des Pazifik auf Naturvölker traf", so der Museumsdirektor.

Die Boberger hinkten etwas hinterher, soll heißen: Die Menschen des nördlichen Mitteleuropas und Skandinaviens waren 1500 Jahre länger als Jäger und Sammler unterwegs, als die südlich von ihnen lebenden Menschen.

Man zählt sie zur Ertebølle-Ellerbek-Kultur. Noch bis etwa 3900 vor Christus ignorierten Angehörige dieser Gruppe die neolithischen Erfindungen, falls man sie überhaupt kannte. Man lebte eben noch in mittelsteinzeitlichen Verhältnissen. Jäger waren deshalb nicht auf landwirtschaftliche Erzeugnisse angewiesen. Keramikgefäße waren ihnen wohl bekannt, "allerdings sind die tönernen Exemplare, in denen die Boberger ihre Nahrung vor Mäusen schützten und sich bevorrateten, wesentlich gröber als die Rössener Spitzenprodukte", so Weiss. Kein Wunder also, wenn die Jäger die Keramik aus dem Süden sehr schick fanden und sie gern gegen Rentierfelle eintauschten. Und sie müssen absolut fasziniert gewesen sein, wenn die "Zugereisten" am Lagerfeuer über ihre Heimat und den landwirtschaftlich geprägten Alltag erzählten - wie auch immer sie sich verständlich machten. Ob die Gäste wohl die Nase gerümpft haben, als sie die vergleichsweise primitiven Hütten der Dünengruppe gesehen haben - denn schließlich kannten sie schon geräumige und beheizte Holzhäuser.

Für sie war ein Ausflug in den Norden gleichsam eine Zeitreise in die Vergangenheit.

+++ Die Ausstellung +++

Indes beschäftigt Weiss die Frage, weshalb der Rössener Becher die Jahrhunderte im Erdreich unbeschadet überdauert hat und nicht wie andere Krüge längst in Scherben liegt. "Das ist schon eine Sensation." Daher sei es möglich, dass das Gefäß eine Grabbeigabe gewesen sein könnte "für einen Rössener, der am Billeufer starb und den seine Kollegen zurück lassen mussten. Für sein Dasein im Jenseits könnte er mit einem kostbaren Becher ausstattet worden sein. In der Tat fanden Forscher Knochen, die möglicherweise auf Leichenbrand hindeuten. Leider sind sie heute verschollen."

Für diese Theorie spreche außerdem, dass Jägergruppen bei ihren Reisen von Lagerplatz zu Lagerplatz niemals so eine exotische Kostbarkeit im Sommerquartier zurücklassen würden.

Ebenfalls im Dunklen liegt, wie die Ertebølle-Menschen mit den neuen Erkenntnissen umgegangen sind. Haben sie das Wissen genutzt und sich ebenfalls als Bauern versucht? Wurden sie von dem weiter entwickelten Landvolk aus dem Süden verdrängt? Weiss: "Der schöne Keramikbecher stellt uns also immer noch vor Rätsel."

Am kommenden Montag berichtet Museumsdirektor Rainer-Maria Weiss über Pfeil und Bogen.