Viele Archive in ganz Deutschland öffnen am Sonnabend ihre Türen für die Öffentlichkeit. Allein im Süden Hamburgs sind fünf Archive dabei.

Stade/Neu Wulmstorf. Sie sind das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft. Ihre Aufgabe ist es, originale und einmalige Zeugnisse menschlichen Lebens begreifbar und erlebbar zu machen. Am Sonnabend, 3. März, öffnen zahlreiche Archivare die Türen ihrer Arbeitsstätten und gewähren der Öffentlichkeit einen Einblick in Magazine voll historischer und zeitgenössischer Dokumente. In der Region beteiligen sich mit dem Staatsarchiv, dem Ritterschaftlichen Archiv und dem Stadtarchiv allein in Stade drei Einrichtungen mit einem umfangreichen Programm an der bundesweiten Aktion. Auch in Jork und Neu Wulmstorf sind die Archive geöffnet.

Wenn Jörg Voigt, 35, über seinen Beruf spricht, macht er aus seiner Begeisterung keinen Hehl: "Entschuldigen Sie bitte meinen Überschwang, aber Sie müssen sich vorstellen, Sie haben ein altes Dokument vor sich auf dem Tisch liegen, und wenn Sie es aufschlagen, rieselt Sand heraus, den der Verfasser einst zum Trocknen seiner Tinte benutzt hat", sagt der promovierte Historiker. "Zu wissen, dass man das Papier als Erster nach mehr als hundert Jahren wieder öffnet, ist einfach großartig." Seit einem Jahr ist Voigt Archivrat im Staatsarchiv in Stade.

+++ Führungen, Vorträge, Ausstellungen +++

Um Archivar zu werden, hat Jörg Voigt zunächst Geschichte und Englisch an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und der University of Nottingham studiert. 2004 folgte das Erste Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien. Nach der Promotionsphase absolvierte er ein zweijähriges Referendariat. Während des praktischen Teils war er im Staatsarchiv in Osnabrück; für den theoretischen Teil besuchte Jörg Voigt die Archivschule in Marburg. Nach dem Abschluss des Zweiten Staatsexamens wechselte er schließlich nach Stade.

Zwar komme es nur äußerst selten vor, einen "richtigen Schatz" aus den Regalen zu ziehen, der beispielsweise einen bestimmten Abschnitt der Kulturgeschichte in einem anderen Licht erscheinen lässt, "aber bei sieben Regalkilometern voller Akten ist das auch nicht ganz ausgeschlossen", sagt Jörg Voigt.

In Stade wird die älteste Originalurkunde des Niedersächsischen Staatsarchivs - von König "Ludwig der Deutsche" aus dem Jahr 849 nach Christus über die Immunität der Verdener Kirche - aufbewahrt. "Es kommt nicht häufig vor, dass man so ein bedeutendes Stück in die Hände bekommt", sagt der Archivar. Zudem gibt es im Bestand ein Papier, das beim großen Stadtbrand im Jahr 1659 sozusagen vom Winde verweht wurde: Es überquerte als "Flugblatt" die Elbe und landete schließlich zwölf Kilometer Luftlinie entfernt in Colmar in Schleswig-Holstein, wo es später ein Unbekannter aufsammelte, sodass es über Umwege wieder in die Bürostuben der Stader Regierung zurückkehrte. "Wenn man sich das Stück heute ansieht, erkennt man an den Rändern noch die Brandspuren, die das Feuer hinterlassen hat. So wird Geschichte wieder lebendig", sagt Voigt.

Mit seiner Leidenschaft für alte Papiere ist Jörg Voigt nicht allein: Gudrun Fiedler, 55, Leiterin des Staatsarchivs, Thomas Fenner, 54, Leiter des Ritterschaftlichen Archivs, und Christina Deggim, 45, Leiterin des Stadtarchivs Stade, sehen in ihrem Beruf mehr als nur eine tagfüllende Beschäftigung. "Wir sind alle leidenschaftliche Spürnasen und haben große Lust am Detektivspiel", sagt Gudrun Fiedler. Denn um ein Archiv mit Leben zu füllen, müssen die wertvollen Stücke erst mal aus in einer wahren Flut an Dokumenten aus verschiedenen Behörden sowie privaten Nachlässen und Registraturen gefunden und ausgewählt werden. "Wo wir dann auch bei den Spinnen und dem Staub wären, den viele Menschen mit unserem Beruf in Verbindung bringen", sagt Jörg Voigt schmunzelnd. "Wir buddeln zwar auch schon mal im Keller oder auf dem Dachboden nach wertvollen Schätzen. Aber ansonsten ist unser Beruf alles andere als dreckig und verstaubt."

Ganz im Gegenteil: Um den Bestand für die Nachwelt dauerhaft zu konservieren, wird in den Archiven penibel auf Hygiene geachtet. Die Dokumente müssen schnellstens von Schmutz und Schimmel befreit und vor Umwelteinflüssen wie Sonne, Wind und Wasser geschützt werden. "Wenn das nicht geschieht, wird das Papier bröckelig und zerfällt, sobald man es nur anschaut. Das gilt insbesondere für Stücke aus der Nachkriegszeit. Das Papier besteht meist aus minderwertigem Material, weil damals die Rohstoffe für eine hochwertigere Herstellung einfach fehlten", sagt Christina Deggim.

Zu den archivwürdigen Akten, die dauerhaft im Magazin aufbewahrt werden, gehören nicht nur historische Zeugnisse, sondern auch Gerichtsurteile, Verträge, Rechtstitel zu Eigentumsverhältnisse und Abschlussarbeiten der Landesschulbehörde, um auch die gegenwärtige Realität abzubilden. "Bei uns dreht sich nämlich nicht alles nur um Geschichte. Wir beschäftigen uns auch mit ganz aktuellen Themen wie Heimerziehung und Meldeunterlagen. Dabei stellen wir uns immer die Frage: 'Was werden unsere Kunden wohl in 20 Jahren von uns wissen wollen?'", sagt Thomas Fenner. Der gebürtige Stader ist als Diplom-Bibliothekar der einzige Quereinsteiger im Bunde, der in Eigenregie und als Einzelkämpfer das Ritterschaftliche Archiv verwaltet.

Große Unterschiede zwischen den beiden Berufssparten gibt es zwar nicht: Bibliotheken und Archive wollen die Vergangenheit für die Zukunft sichern. Doch im Gegensatz zum Bibliotheksgut, das stets in mehrfach publizierter Form vorliegt, sind Urkunden und Akten in den Archiven immer Unikate. "Was allerdings nicht heißt, dass wir alles aufbewahren, was wir in die Finger bekommen. Nur zwei Prozent der staatlichen Überlieferung werden übernommen", sagt Gudrun Fiedler. "Ein Archiv zu unterhalten heißt deshalb, die Spreu vom Weizen zu trennen. Aber was drin ist, bleibt auch drin - für immer." Christina Deggim fügt hinzu: "Und fröhlich sind wir nur, wenn die Ordnung hergestellt ist. Das ist eine Berufsneurose, die wir alle teilen. Auch wenn unsere Schreibtische manchmal anderes vermuten lassen."

Dass auch die Archive mehr denn je auf Kundschaft angewiesen sind, ist kein Geheimnis. Den staatlichen Einrichtungen wird ein hartes Leistungskorsett geschnürt: "Wir müssen jeden Monat eine Kosten-Leistungs-Rechnung vorlegen, die besagt, wie viel Meter Papier wir verpackt, vorgelegt, bewertet und übernommen haben und wie viele Kunden unser Archiv besucht haben."