Der Nationalcircus gastiert am 22. Februar in Stade. Das Abendblatt hat sich schon jetzt hinter der Bühne bei den Artisten ein Bild gemacht.

Hamburg/Stade. Offene Kisten mit Kostümen, so weit das Auge reicht. Jemand schiebt ein Fahrrad vorbei. Ein paar Meter weiter ziehen sich Menschen um, andere machen Dehnübungen. Zwei Mädchen spielen mit einem Diabolo. Wir befinden uns hinter der Bühne des Chinesischen Nationalcircus', mitten in einer von zwei Vorstellungen an diesem Tag. Doch von Chaos und Hektik keine Spur. Das Ensemble ist so eingespielt, dass Chef Raoul Schoregge nach seinem Auftritt als Clown kurz zuvor nun sogar Zeit für einen Espresso und einen kleinen Plausch hat. "Irgendwann, noch bevor André Heller 1985 die Show 'Begnadete Körper' gemacht hat", erinnert er sich, "habe ich in Frankreich mal eine Produktion mit chinesischen Artisten gesehen, und das hat mich völlig verzaubert. Die haben keinen Handstand gemacht, die waren der Handstand." Seit zwölf Jahren ist Schoregge ist nun selbst Produzent, Clown und Tourneeveranstalter in Personalunion.

Den Chinesischen Nationalcircus gibt es aber schon seit 1989. Neun Millionen Besucher haben die verschiedenen Shows, bei denen es um spektakuläre Akrobatik und die Faszination der fremden Hochkultur Chinas geht, seitdem gesehen. Die aktuelle Produktion "Seidenshow" ist noch bis Ende April in ganz Deutschland zu sehen und macht am 22. Februar auch Halt im Stader Stadeum.

23 chinesische Artisten stehen darin auf der Bühne. Doudou, die in diesem Moment gerade strahlend den Gang entlangkommt, ist mit dabei. "Doudou, komm mal her", ruft Schoregge ihr zu. "Zeig mal, was deine Nummer ist." Die 17-Jährige zögert nicht lange, springt auf Schoregges Schultern und macht dort einen Handstand. Seit ihrem achten Lebensjahr ist Doudou Artistin, drei Jahre reist sie nun schon mit dem Chinesischen Nationalcircus umher. Schoregge hat sie in einer Zirkusschule in China entdeckt. Mehrmals im Jahr besucht er die besten der rund 1000 Zirkusschulen des Landes und hält Ausschau nach neuen Nummern und Artisten. Dass jemand den Chinesischen Nationalcircus wieder verlassen hat, ist bisher noch nicht vorgekommen.

Das liegt mit Sicherheit auch am tollen Arbeitsklima. Als Doudou sich verabschiedet, um für ihre nächste Nummer, eine Teppichjonglage, auf die Bühne zu gehen, nennt sie Schoregge "Papa". So nennen ihn alle Artisten. Wenn man mehrere Monate lang 24 Stunden am Tag zusammen verbringt, wächst man eben zu einer echten Familie zusammen.

Biegsame Körper unter dem Dach des CCH

"Papa", sagt auch Liu Wen Long und grinst, als er sich just in diesem Moment zu Schoregge gesellt. Seit seinem neunten Lebensjahr jongliert der heute 22-Jährige mit Vasen. Er bückt sich und zeigt die Hornhaut, die er deshalb auf seinem Kopf hat. "Das ist nichts Schlimmes, darauf ist man in China sehr stolz", erklärt Schoregge. Überhaupt habe der Zirkus in China eine andere Bedeutung. "Artisten wie unsere Choreografin Qing Qing sind da so bekannt wie hier ein Fußballspieler", sagt Schoregge. Durch neue Medien wie Fernsehen und Internet sowie die mittlerweile starke Wirtschaft Chinas verliere der Zirkus zwar langsam an Bedeutung, aber noch immer sei er für viele ein gesellschaftliches Sprungbrett.

Die Ursprünge des Zirkus in China liegen mehr als 2000 Jahre zurück. "Es gibt drei Geburtsstätten", so Schoregge. "Krieg, denn früher hatten die großen Armeen Akrobaten als Vorhut. Dann Religion, denn die Einheit von Körper, Geist und Seele ist der große Unterschied zwischen Abendland und China. Aber der Hauptpunkt sind die Teehäuser." Deswegen kommen in so vielen Nummern auch ganz alltägliche Gebrauchsgegenstände wie Tassen, Teller, Vasen oder Stühle vor. "Finanziert haben sie das damals dadurch, dass sie den Tee teurer gemacht haben", sagt Schoregge. "Das ist kein Witz".

Aber genug geplaudert. Die Show neigt sich dem Ende entgegen, und Schoregge hat beim großen Finale noch mal einen Einsatz. Alle 23 Artisten wirbeln mit ihm über die Bühne. Ein Höhepunkt: acht Menschen auf nur einem Fahrrad. Aber Höhepunkte gibt es in der Show sowieso viele. Da wird mit Trommeln und Tellern jongliert, auf Stühlen und durch Rohre geturnt. Bei der Nummer "Chinese Pole" derweil schwebt ein Artist im 90-Grad-Winkel zu einer Stange vertikal in der Luft. Die Körperbeherrschung der Artisten ist beeindruckend.

Natürlich steckt hinter all dem aber auch eine Geschichte, wie Schoregge verrät, als er nach dem Finale wieder von der Bühne kommt. "Seidenstraße", so heißt das Netzwerk von alten Karawanenstraßen, das Orient und Okzident verbindet. "Die Show beginnt damit, dass alle Artisten einen Flieger nehmen wollen, der allerdings ausfällt", so Schoregge. "Also gehen sie den Seidenweg so, wie man ihn früher gegangen ist."

Die Besucher werden also mitgenommen auf diese Reise von Europa nach China, die nicht nur Unterschiede zwischen den beiden Kulturen, sondern auch Gemeinsamkeiten aufzeigen soll. So wurde für die musikalische Untermalung bewusst die Gruppe Farfarello um Geiger Mani Neumann gewählt. Europäische Musik und chinesische Akrobatik werden so eins.

Mit dieser Show ist der Chinesische Nationalcircus offizieller Bestandteil des "China Kulturjahrs 2012". Eine Tatsache, auf die Schoregge stolz ist, die aber auch eine Kehrseite hat. "Wir sind dadurch erstmals auch in die Schusslinie geraten", sagt er. "Weil wir mit einem totalitären System zusammenarbeiten. China ist natürlich sehr ambivalent, und was da derzeit passiert, verstehen auch wir nicht." Mit seinem Zirkus wolle er auch den Chinesen zeigen, dass es durchaus anders geht. "Es gibt da ein passendes chinesisches Sprichwort", sagt er. "'Der Mann, der den Berg abgetragen hat, war der gleiche, der angefangen hat, kleine Steine wegzuräumen.' Und ich räume eben jeden Tag kleine Steine weg."

Die Aufführung des Chinesischen Nationalcircus' am 22. Februar im Stader Stadeum, Schiffertorsstraße 6, beginnt um 19.45 Uhr. Karten kosten zwischen 18 und 37,80 Euro, es gibt sie vorab unter Telefon 04141/409 10.