Die Pfleger in der Nordheide müssen rund 1300 Tiere erfassen. Doch die versuchen nur allzu oft, sich der Zählung zu entziehen.

Eins, zwei. Die Sibirischen Tiger sind vollzählig. Die riesigen Raubkatzen Ronja und Alex ruhen gelassen in ihrem 3000 Quadratmeter großen Gehege und machen Obertierpflegerin Alexandra Urban, 27, und ihren Kollegen keine Schwierigkeiten bei der Inventur. Eine listige Damwildkuh dagegen schon: Seit das Tier sich irgendwie beigebracht hat, mit einer geschickten Kopfbewegung die Besuchertüren zu öffnen, büxt es immer wieder mal aus und macht sich auf den Wildparkwegen selbstständig. Ausreißer sind nicht gerade das, was sich Zähler wünschen.

Von wegen im Winter sei hier nichts los: Im Wildpark Lüneburger Heide ist in diesen Tagen Volkszählung. Acht Tierpfleger und vier Auszubildende zählen die fliegenden, schwimmenden und laufenden Bewohner in den Gehegen, Volieren und Teichen. Auf 62 Hektar Parkfläche leben 140 verschiedene Tierarten, insgesamt mehr als 1300 Tiere. Fünf Tage braucht das Personal für die Zählung, denn ihren üblichen Job müssen die Männer und Frauen auch verrichten. Schneeleoparden, Bären, Dachse und Co. müssen gefüttert und gepflegt werden - jeden Tag.

Wie viele Tiere genau in dem Wildpark in Nindorf im Süden des Landkreises Harburg leben, wird immer ein Geheimnis bleiben. Bei den Ameisen der Bioschule fängt niemand an zu zählen. Auch bei den Goldfischen belässt es die Leiterin der Tierpflege dabei, dass die Teichbewohner im Frühjahr als hell leuchtender Schwarm wieder auftauchen. Niemand versucht, jeden Goldfisch einzeln zu erfassen. Dabei hat der Bochumer Tierpark sogar eine Inventurmethode für seine kleinen Fische entwickelt. Er lässt die Schwärme fotografieren. Anschließend werden die einzelnen Fische auf den Fotos zusammengezählt.

Bei den Tieren, die unter Artenschutz stehen, entgeht den Zählern in Nindorf kein Exemplar. Ob Sibirische Tiger, Wölfe, Luchse, Fischotter oder Greifvögel: "Da haben wir die genaue Übersicht", sagt Alexandra Urban. Den geübten Augen der Tierpfleger entginge nicht einmal ein Schneeleopard, sollte er sich einschneien lassen. Sie wissen genau, hinter welchem Hügel sich tatsächlich ein Tier verbirgt.

Beim Zählen am Ententeich ist es mit der Übersichtlichkeit vorbei

Zweimal im Jahr verlangt der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz von dem Wildpark, die Anzahl seiner geschützten Tiere zu übermitteln. Das Ergebnis seiner Inventur teilt der Wildpark dem Veterinäramt und der Naturschutzbehörde des Landkreises mit.

"Noch nie hat auch nur ein Tier gefehlt", sagt Norbert Tietz. Womit der Tierparkchef natürlich nicht Ameisen oder Schnecken meint. Aber ein kapitales Tier wie ein Wolf oder ein schottisches Hochlandrind - nein! Ab und an rufen Menschen bei Norbert Tietz an, weil sie umherirrendes Wild auf der nahe gelegenen Autobahn oder auf anderen Straßen bemerkt haben. "Fehlt euch ein Elch?", fragen sie dann. Bis jetzt stammte kein Streuner aus dem Nindorfer Gehege.

Beim Zählen des Geflügels im Wildpark ist es aber mit der Übersichtlichkeit vorbei. "Der Ententeich ist jedes Jahr eine Katastrophe", nennt Alexandra Urban einen der Plätze, der bei den Zählern wenig beliebt ist. Nicht nur, weil Enten auch gern mal im wahrsten Sinne des Wortes untertauchen. Einige der Teichbewohner sind stets Besucher, die von jenseits des Wildparkzauns eingeflogen sind. Die Tierpfleger kennen "ihre" Enten zwar so gut, dass sie diese von den Gästen optisch unterscheiden können. Man müsse aber genau hinsehen und beobachten, sagt Alexandra Urban.

Ungebetene Gäste sind die Nilgänse. Die Entenvögel mit dem auffälligen Augenring stammen aus Afrika und breiten sich zunehmend in Mitteleuropa aus. Die Nilgans gilt als rüpelhafter Aggressor: "Sie sucht sich ein Gehege aus und vertreibt die Wildparktiere", sagt Tierparkchef Tietz. Selbst den Tierpflegern zwicke die renitente Gans in die Hose.

Rotwild und Damwild legen offenbar großen Wert auf ihre Persönlichkeitsrechte. Dürften sie den Bundestag mitwählen, würden sie ihr Kreuz wohl hinter der Piratenpartei machen. Die Großrudel haben eine Technik entwickelt, den Volkszählern das Leben so schwer wie möglich zu machen. Immer wenn sich die Tierpfleger ihnen nähern, rotten sie sich zu einer unübersichtlichen Traube zusammen. Spazieren Wildparkgäste auf sie zu, bleibt dieses Verhalten aus.

Alexandra Urban hat schon viel ausprobiert, um das Wild auszutricksen - vergeblich. "Ich habe mich in einer Menschentraube versteckt oder meine grüne Arbeitskleidung gegen private Kleidung getauscht. Nichts klappt", sagt sie. Bei der Inventur zählen jetzt drei bis fünf verschiedene Tierpfleger die Rudel durch. Dann wird der Mittelwert aus den Ergebnissen gebildet.

Unabsichtlich entziehen sich die Präriehunde der Volkszählung. Einige von ihnen ziehen sich bis zu 1,50 Meter tief unter die Erde zum Winterschlaf zurück und bringen dort auch ihre Jungen zur Welt. Ein paar Männchen dagegen bleiben zum Schutz der Kolonie wach an der Oberfläche zurück. In diesem Fall wählen die Tierpfleger eine andere Taktik: Sie zählen bereits im Herbst durch und schauen, was im Frühjahr zutage kommt. Unter Tage offenbart sich eine erstaunliche Aktivität: In einem Herbst habe das Wildparkpersonal mal elf Präriehunde registriert. Später im Frühjahr waren es 33.

Dass sich das Ergebnis einer Inventur im Wildpark innerhalb kürzester Zeit wieder verändern kann, ist nicht überraschend. Tiere sind keine Warengegenstände, sie vermehren sich oder sterben. Vor einiger Zeit hatten die Tierzähler schon eine Gruppe Rostgänse abgeschrieben. Sie gingen davon aus, dass ein Fuchs das Geflügel gerissen hätte. Im Frühjahr aber tauchte ein Gänsepaar überraschend wieder auf - mit vier zusätzlichen Jungtieren.

Trotz allem gilt der Jahreswechsel als bester Zeitpunkt für die Inventur. Die Jungtiere kommen meist im Frühjahr und Sommer zur Welt, die Zähler kämen kaum nach. Im Winter bleibt die Tierpopulation meist stabil. In diesem bisher ungewöhnlich warmen Winter hat der Wildpark aber überraschenden Zuwachs im Streichelzoo. Zwergziegen haben Zwillings- und sogar Drillingsgeburten. Wie im Frühling.