Dr. Ute Kehr leitete 17 Jahre den Weißen Ring in Stade. Engagiert half sie Menschen in größter Not. Am Freitag wird sie feierlich verabschiedet.

Stade. Ihr Name bedeutet für Opfer krimineller Übergriffe und brutaler Gewalt vor allem eines: Beistand und Hilfe, wenn nach einer Straftat im Leben nichts mehr so ist, wie es einmal war. Dr. Ute Kehr hat 17 Jahre ehrenamtlich für den "Weißen Ring" Frauen, Männer, Kinder und Jugendliche in größter Not und Verzweiflung begleitet, damit sie sich wieder in den Alltag zurückzufinden können. Nun gibt die engagierte Staderin am Freitag, 6. Januar, ihr anspruchsvolles Ehrenamt und ihre Funktion als Leiterin der Stader Außenstelle des "Weißen Rings" an Peter-Michael Reiß ab.

"Alles hat seine Zeit", sagt Ute Kehr, "und eine neue Person in diesem Amt, bringt sicher frischen Wind beim Fortführen erfolgreicher Arbeit aber auch beim Blick auf Ziele, die wir noch erreichen wollen". Die Unruheständlerin will nach der aktiven Zeit in der Opferhilfe-Organisation mehr Zeit für ihre Familie finden und lang gehegte Reisepläne verwirklichen.

Im Jahr 1995 begann Dr. Ute Kehr ihre Arbeit beim "Weißen Ring" noch neben ihrer Tätigkeit als Anästhesistin im Stader Krankenhaus. Nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben im Jahr 2003, widmete sie sich mit hohem persönlichem Einsatz der Opferhilfe. Mehr als 200 Fälle hat Ute Kehr persönlich betreut, für mehr als 1500 Kriminalitätsopfer hat sie gemeinsam mit ihren Mitstreitern Hilfe organisiert und koordiniert. Ganz gleich, ob bestohlene Rentner, Traumatisierte nach sexuellem Missbrauch, Schwerverletzte nach Raubüberfällen oder von Straftätern misshandelte Menschen, Ute Kehr und ihre Vereinsmitglieder stehen mit großem Einfühlungsvermögen und Fachwissen Menschen bei, denen nach einem kriminellen Übergriff sowohl physische als auch psychische Energie fehlt, für ihre Rechte einzutreten und wie in den meisten Fällen nötig, auch dafür zu streiten. Ute Kehrs Fazit aus all den betreuten Notfällen: "Wir leben noch immer in einer Tätergesellschaft." Deshalb sei es so wichtig, dass der Blick auch auf die Opfer gerichtet werde und sie Unterstützung bekommen, so Kehr.

"Es hat sich in den vergangenen Jahren schon viel geändert, was die Anteilnahme betrifft. Dennoch würde ich mir wünschen, dass bei allen Menschen, die beispielsweise in zuständigen Behörden mit dem Leid von Kriminalitätsopfern konfrontiert werden, noch mehr Bereitschaft wächst, das Machbare möglich zu machen, auch wenn es zusätzlich Aufwand und Arbeit bedeutet."

Ein wichtiger Schritt ist, dass inzwischen bei der Ausbildung von Polizeibeamten der Opfergedanke einbezogen wird und sich zunehmend sichtbar in der alltäglichen Arbeit auch verinnerlicht. Ein Umdenken habe in der Gesellschaft begonnen, das persönliche Leid der Opfer mehr wahrzunehmen, so Kehr. "Aber der Opfergedanke ist vielen Menschen noch immer fremd und verursacht Unbehagen." Kehr beschreibt ihre Erfahrungen so, dass nach den meisten Straftaten Staat und Justiz den Tätern ihre Aufmerksamkeit schenken, ihnen Anwälte und Therapeuten finanzieren, jedoch die Opfer sich noch immer selbst um Hilfe, Erstattung von Behandlungskosten oder einen Therapieplatz bemühen müssen.

Eben dort setzt der Weiße Ring mit seiner Vermittlung von Hilfe an. Im Landkreis Stade engagieren sich acht ehrenamtliche Mitarbeiter aktiv für den Opferschutz. Rund 60 Fälle betreuen sie jährlich im direkten Kontakt, bei telefonischen Hilfen, die es nun unter 04141/788 91 41 gibt, sind es deutlich mehr.

"Je nach seelischer und finanzieller Bedürftigkeit begleiten wir Opfer, wenn sie es möchten", sagt Ute Kehr. "Dabei legen wir unser Augenmerk darauf, dass wir helfen aber nicht entmündigen." In der Praxis sieht das so aus, dass Mitarbeiter des Weißen Ringes Opfer auch zu Gerichtsterminen begleiten, wo sie ihrem Peiniger begegnen müssen. "Es ist ganz traurig, wie oft Verteidiger von Straftätern die Ermittlungsarbeit der Polizei oder die Glaubwürdigkeit der Opfer zerpflücken wollen", sagt Kehr. Bei ihrem Engagement für Kriminalitätsopfer kam Ute Kehr mit ausgeprägter Hartnäckigkeit ans Ziel, "auch wenn der Instanzenweg durch eine aufgeblähte Bürokratie noch immer viel zu steinig ist".

"Wer nach einer Straftat mit körperlichen und seelischen Schmerzen belastet ist, hat wenig Kraft sich durch Unmengen von Formularen zu arbeiten. Hier hilft unser Einsatz als erster Schritt für die Betroffenen zurück in das alltägliche Leben", sagt Kehr. "Unsere Arbeit zeigt immer wieder, dass unsere Soforthilfe ein Schritt zur Traumaverarbeitung ist, wenn sich Opfer nach der Tat nicht allein gelassen fühlen", sagt Ute Kehr.

Sie berichtet vom Vorbild Österreich, wo jedes Opfer einen Psychologen und Beistand vom Staat gestellt bekommt. Auch zehn Prozent von Bußgeldern werden dort für die Opferhilfe verwendet. Angesichts klammer Kassen bei Bund, Ländern und Kommunen sind die finanziellen Unterstützungen für Opfer in Deutschland derzeit rückläufig. Auch wenn es durch Anregungen des "Weißen Ringes" Gesetzesänderungen zugunsten von Opfern gab, sei noch viel zu tun.

Ute Kehr wirkte vier Jahre auch aktiv im Bundesvorstand des "Weißen Ringes". "Es war sehr interessant, die Vorarbeit für wichtige Entscheidungen mitzugestalten", sagt die Staderin.

Die Gratwanderung zwischen Sensibilität und Sachlichkeit, Mitgefühl und Pragmatismus war für Ute Kehr mit jedem neuen Fall eine neue Herausforderung. Ihr Beruf als Ärztin war eine solide Voraussetzung, ihren Schützlingen ein wichtiges Stück Sicherheit zu vermitteln. "Es ist sehr wichtig, dass alle Menschen die den ersten Kontakt mit Opfern haben, ob Polizisten oder Mediziner, ihnen den Rat geben, sich an die Opferhilfe oder den "Weißen Ring" zu wenden. Und zwar nicht nur in einem Nebensatz, sondern hinführend zu direkter Hilfe."

Ute Kehr gesteht, dass es trotz aller emotionaler Distanz, die nötig ist, um gezielt helfen zu können, auch Schicksale gab, die richtig unter die Haut gingen. "Solche Fälle mit schrecklichen Bildern bleiben im Gedächtnis und man hat sie auch nach der Arbeit mit nach Hause genommen. Aber es bewirkt wenig, mit dem Opfer zu weinen. Um die Beklemmungen der Situation zu lösen, ist sachliches, einfühlendes Miteinander gefragt."

Stand am Ende ein positives Resultat, sei das "beglückend und motivierend" für ihre weitere Arbeit gewesen, so Kehr. "Direkt helfen zu können, war ausschlaggebend dafür, mich in die Arbeit des "Weißen Ringes" einzubringen. Die damit verbundene Schreibtischarbeit war da immer ein nötiges, unabwendbares Pflichtprogramm." Deshalb ist für Ute Kehr auch selbstverständlich, dass sie ihre aktuellen Betreuungssachen noch zu Ende führen wird und Mitglied im Weißen Ring bleibt.