Ehemaliger DDR-Ministerpräsident erinnert sich an die Revolution. Der Politiker war zu Gast im Stader Rathaus. Vor Publikum sprach er über die Ereignisse von 1989 und 1990.

Stade. "Die Wende war eine Feierabendrevolution." Das sagte Lothar de Maizière, der einzige demokratisch gewählte Ministerpräsident der DDR, am Mittwochabend im Stader Rathaus im Gespräch mit dem Historiker Alexander von Plato. "Die Menschen sind von sieben bis 17 Uhr arbeiten gegangen und haben danach demonstriert", so der 69-Jährige. Die deutsche Einheit sei eine friedliche Feierabendrevolution gewesen. Die Gewaltlosigkeit sei wiederum eine entscheidende Voraussetzung für die Wende gewesen. Obwohl er den Begriff "Wende" benutzt, findet er den Terminus falsch und ärgerlich: "Das war eine Revolution."

Die 250 Gäste erlebten ein launiges zweistündiges Gespräch, in dem de Maizière der "Berliner Schnauze" alle Ehre machte. Den Humor vermisst der Rechtsanwalt in der heutigen Politik: "Gute, politische Witze gibt es nur in einer Diktatur." Das sei ein herber Verlust für die Politik.

Außerdem fehle es den politischen Akteuren an Spontaneität. Die deutschen Parlamente müssten den deutschen Durchschnitt besser repräsentieren: "Der berufliche Querschnitt ist völlig verzerrt. Arbeiter fehlen etwa in den Parlamenten." Das sei in der DDR besser gewesen. Zudem seien die Ost-Politiker deutlicher an Sachpunkten als an Parteizugehörigkeiten interessiert gewesen: "Heute sind Ideen sofort falsch, weil sie von einer anderen Partei kommen."

Dennoch wollte de Maizière das System in der DDR ändern. "Für unsere Kinder haben wir stets zwei Antworten auf Fragen gehabt. Eine für zu Hause und eine für die Schule." Daher habe er sich an den Demonstrationen vor dem Fall der Mauer beteiligt. Er habe zu den "notorischen Hierbleibern" gehört, die die DDR von innen reformieren wollten. Sie hätten ebenso wie die Ausreisenden die Wende bedingt. Die Wiedervereinigung, die auf die Ausreisewelle nach dem Herbst 1989 folgte, sei indes "keine historischen Zwangsläufigkeit" gewesen und sei "keiner Logik gefolgt".

Nach dem Mauerfall übernahm der Rechtsanwalt im November 1989 den Vorsitz der Ost-CDU, in der er seit seinem 16 Lebensjahr Mitglied war. Zudem wurde de Maizière Mitglied der DDR-Regierung im Kabinett von Hans Modrow. Zu dem Zeitpunkt sei ihm bereits deutlich gewesen, dass die DDR "den Bach herunter" gehen würde. So de Maizière: "Mein Ziel war es, die Bürger ohne Hunger und Frieren über den Winter zu bekommen und sie frei wählen zu lassen." Dieses Ziel wurde im April 1990 erreicht: Die DDR-Bürger durften erstmals ihr Parlament frei wählen. De Maizière wurde Ministerpräsident.

An der Spitze des Staates sei ihm dann immer deutlicher geworden, dass die DDR wirtschaftlich am Ende war. "Ich hatte Angst, die Gehälter für die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst nicht mehr zahlen zu können. Die DDR war pleite." Der Staat habe jährlich zehn Milliarden Mark benötigt, doch die Ausgaben hätten so stark reduziert werden müssen, dass der Lebensstandard um 25 bis 30 Prozent gesunken wäre. "Die DDR wäre nicht mehr regierbar gewesen."

Der Bankrott habe das Tempo der Einheit beschleunigt und deutlich gemacht, dass es nur eine Lösung mit der Bundesrepublik geben konnte. Der Sowjetunion sei es aber deutlich schlechter gegangen: "Der Präsident Michail Gorbatschow hat von Wirtschaft so viel verstanden, wie der Hase vom Eierlegen."

Ursprünglich seien für die Wiedervereinigung bis zu zehn Jahre angedacht gewesen. In der dann sehr knappen Zeit seien auch Fehler begangen worden. "Ich habe als Rechtsanwalt gut von den Fehlern meiner Regierungszeit gelebt", so de Maizière, der nach der Wiedervereinigung bis Dezember 1991 Mitglied im Bundestag und danach nicht mehr in der Politik aktiv war.

Trotz der kurzen politischen Karriere sei de Maizière ein wichtiger Akteur der Einheit gewesen, sagte von Plato. Und fragte: "Ärgert es sie nicht, dass sie dafür nicht geehrt werden, wie etwa vor kurzem Kohl, Bush und Gorbatschow in Berlin?"

Zunächst betonte der 69-Jährige, dass Wolfgang Schäuble und nicht Helmut Kohl die Verhandlungen geführt habe. In der Öffentlichkeit gelte aber eher der damalige Bundeskanzler als Vater der Einheit. "Ich habe manchmal den Eindruck, dass Kohl sich selbst vereinigt hat", so de Maizière. Er betonte auch, dass kein Politiker, sondern das Volk der DDR die Einheit herbei geführt habe. Das würden viele Bürger vergessen. In Vergessenheit gerate auch, dass vieles in dem Regime unerträglich gewesen sei und die Mehrheit der Ost-Bürger deutlich besser da stehe:"Wir jammern heute auf einen wesentlich höherem Niveau."