Die Landpartie ist beschwerlich: Die Dörfer der Kirchengemeinde liegen in einem Umkreis von 15 Kilometern auseinander.

Estebrügge. Von der rund 1,8 Millionen Einwohner starken Metropole Hamburg zum 861-Seelen-Dorf Estebrügge kurven Autofahrer nur zehn Minuten am Deich entlang. Martina Janßen braucht für die rund 6,3 Kilometer lange Strecke mehr als die doppelte Zeit. Und das, obwohl die Pastorin der Estebrügger St.-Martini-Gemeinde ein recht ordentliches Tempo vorlegen kann - auf ihrem Hollandrad.

Martina Janßen ist eine der wenigen Pastoren, die täglich rund 15 Kilometer im Namen des Herrn auf dem Fahrrad unterwegs sind, egal ob Gottesdienst oder Trauergespräch. "Ich habe eine angeborene Augenerkrankung und kann Abstände nicht einschätzen, darf deswegen nicht Autofahren", sagt die 38-Jährige, "Sie sollten mal sehen was passiert, wenn ich einen Kaffeebecher unter einen Automaten stellen muss - das gibt eine Schweinerei, jedes Mal", sagt sie lachend, während sie ihr Fahrrad aus der Garage beim Pastorenhaus schiebt.

An diesem Tag geht es nach Buxtehude. Die Pastorin muss für den Kindergottesdienst einkaufen. "Außerdem brauche ich noch ein Hochzeitsgeschenk für das Paar, das ich am Wochenende traue", sagt sie und schwingt sich auf den Sattel. Die Glocke der benachbarten St.-Martini-Kirche schlägt in 37 Meter Höhe 3 Uhr, rund sechs Kilometer trennen Martina Janßen von ihrem Ziel. "Das ist eine meiner kürzeren Touren", sagt sie schlicht. Schließlich gehören zu Martina Janssens Kirchengemeinde sechs Dörfer: Estebrügge, Königreich, Hove, Moorende, Cranz und Rübke das macht einen Radel-Radius von etwa 15 Kilometern

Ob das Fahrradfahren nicht lästig ist? Weiß Gott nicht! Das hat sogar viele Vorteile, findet Martina Janßen. "Das sind völlig neue Perspektiven pastoraler Präsenz." Und sie behält Recht: Hinter der ersten Deichkurve hält ein Auto, das Fenster wird von der Fahrerin heruntergelassen, Neuigkeiten werden ausgetauscht. "Ich bin für die Leute viel greifbarer, als wenn ich mit dem Auto vorbeisausen würde."

Dabei winkt sie herzlich einen älterem Herren, der in seinem Garten den Rasen mäht zu. Außerdem kämen ihr beim Radeln die besten Ideen für Predigen. Und wenn es mal langweilig wird auf ihren unergründlichen Wegen, dann stöpselt Martina Janßen die Kopfhörer ihres MP3-Spielers in die Ohren. "Zu Hause höre ich Jazz, aber unterwegs muss es etwas Schnelleres sein", sagt sie, "Deep Purple oder Rolling Stones."

Seltsame Musikwahl? Keineswegs. Einer Frau wie Martina Janßen nimmt man das unkonventionelle Geständnis ab - allein wie sie da auf ihrem Sattel sitzt, mit schwarzen Pumps und im kurzen Jeansrock! "Früher habe ich noch kürzere Röcke getragen. Aber auf dem Rad... Ich darf die Pedale, aber nicht die Amtswürden mit Füßen treten."

Bedenken habe sie schon gehabt, als sie im November 2008 die Pastorenstelle in Estebrügge angetreten habe. Nicht nur der langen, beschwerlichen Wege wegen, die sie bei Wind und Wetter hinter sich bringen muss, sondern auch, weil sie zuvor in der Stadt Göttingen gearbeitet hatte. Der Dorf-Stadt-Kontrast sei aber nicht so groß, sagt die Friesin. Vor allem nicht bei ihrer wichtigsten Arbeit, bei der es in erster Linie um Seelsorge geht. "Die Probleme der Städter unterscheiden sich nicht von denen der Dorfbewohner. Einsamkeit, Überforderung und Trauer, das sind die häufigsten Sorgen der Menschen", sagt sie.

Buxtehude kündigt sich hinter dem Deich mit hohen Gebäuden an. Der erste Halt ist ein Geschäft für Bastelbedarf. "Ich lese im Kindergottesdienst die Geschichte von der Arche Noah vor", sagt sie, "die Kinder sollen dazu einen Regenbogen basteln." Martina Janßen kämpft nach dem Einkauf eine Weile damit die großen Tonpapierbögen in den zu kleinen Fahrradkorb zu quetschen. Quer durch die Altstadt geht es zum Buchladen "Ziemann & Ziemann. Seniorchef Winfried Ziemann gibt sich mürrisch: "Die feine Frau Pastorin versucht mich stets zu missionieren", sagt Ziemers. Er ist ein Mann der nicht an Gott glaubt. Dabei zwinkert er Martina Janßen verschwörerisch zu. Die Pastorin kann kontern: "So ein Quatsch", sagt sie. Ihr sei es gleich, wenn nicht alle an Gott glauben. Sie nimmt derweil das eingepackte Hochzeitgeschenk - einen Gedichtband mit Liebesversen - entgegen.

Heimweg, die Windböen peitschen durch Janßen langes, braunes Haar. Sie steht auf den Pedalen. 400 Meter weiter läutet die St.-Martini-Kirche: 18 Uhr - Feierabend! Martina Janßen schiebt ihr Fahrrad in die Garage, Sicher ist sicher. Denn einen Nachteil habe das Radeln bisher schon gehabt: "In Buxtehude haben sie mir in meiner ersten Arbeitswoche das Fahrrad geklaut", sagt sie.