Falscher Pilgerweg fehlerhafte Heimatkundebücher, zu frühes Dorfjubiläum - alles schon passiert.

Stade. Geschichte ist ein dehnbarer Begriff und für Interpretationen offen - zumindest in Stade. Und das zum Ärger von Stadtarchivar Jürgen Bohmbach. Er ist seit 1983 für die Geschichte der Hansestadt zuständig und hat während dieser Zeit einige Kuriositäten und den ungenauen Umgang mit der Historie erlebt.

Ein Beispiel: Seit Mai dieses Jahres ist Stade Mitglied im Förderverein "Romweg - Abt Albert von Stade". Der Mönch habe einen Pilgerweg von Stade über 28 deutsche, drei österreichische und neun italienische Städte bis nach Rom geebnet, so die Satzung des Fördervereins. Ziel ist, den Pilgerweg wieder ins Leben zu rufen. Doch Historiker bezweifeln, dass es den Pilgerweg tatsächlich gegeben hat. "Abt Albert hat zwar eine Romfahrt gemacht, aber wahrscheinlich eine andere Route genommen, die über Bremen führt. Die Strecke des Fördervereins bezweifele ich", sagt Bohmbach. Vor allem über die Strecke im heutigen Niedersachsen sei wenig bekannt. "Das ist kein Pilgerweg", so der Stadtarchivar.

Doch trotz seiner Begründungen und historischen Bedenken, die er den Politikern im Kulturausschuss vorgetragen hat, ist Stade nun Vereinsmitglied. "Das ist nur touristische Vermarktung." Tourismus und kulturpolitische Vermarktung hätten mehr Einfluss, als die historische Genauigkeit gehabt.

Geschichtlich unpräzise ist auch das Jubiläum der Stader Ortschaft Bützfleth. Weil die Politik ein Jubiläum des Dorfes feiern wollte, recherchierte Bohmbach die erste urkundlichen Erwähnung von Bützfleth. Weil allerdings nur geschrieben wird, dass während der Amtszeit des Grafen Rudolf I. der Ort gegründet wurde, befindet sich die mögliche Geburtsstunde von Bützfleth in einer Zeitspanne von 16 Jahren. "Der Ortsrat hat sich dann ein Datum aussuchen können", sagt Bohmbach. Historisch sei das vollkommen gängig. Die Politiker hätten sich dann einfach für das Jahr 1110 entschieden. "Das waren pragmatische Gründe. In diesem Jahr feiert schon der Schützenverein sein 50-jähriges Bestehen, aber zu lange sollte nun auch nicht gewartet werden", so Bohmbach. Im kommenden Jahr wird nun das Jubiläum gefeiert.

Die größte Kuriosität, die Bohmbach während seiner Zeit als Stadtarchivar erlebt hat, liegt schon einige Jahre zurück. 1980 feierte die Stader Ortschaft Hagen ihr 850-jähriges Bestehen. Allerdings zwei Jahre zu früh. Der damalige Bürgermeister und Ortsrat hatte die Jubiläumsfeier geplant. Programm und Termin waren festgelegt. Ein Jubiläumsstein war bereits fertig. "Und dann kamen die Politiker auf mich zu und wollten historische Berichte für ihre Dorfchronik haben", sagt Bohmbach. "Ich musste ihnen sagen, dass sie zwei Jahre zu früh dran waren, weil Hagen erstmals 1132 urkundlich erwähnt wurde." Trotz dieses Irrtums wurde in Hagen das 850-jährige Bestehen 1980 gefeiert - schließlich war alles beschlossen, geplant und festgelegt. Der Gedenkstein in Hagen trägt auch heute noch das falsche Datum.

Der Stadtarchivar konnte den Fehler als studierter Historiker weniger locker übergehen und hielt sich in der Dorfchronik an das korrekte Datum. "Damals hat mich das schon geärgert, aber heute nehme ich das mit Humor", sagt Bohmbach. Vor zwei Jahren wurde dann übrigens korrekt der 875. Geburtstag in Hagen gefeiert.

Schulbuchautoren und Lehrer nehmen es scheinbar auch nicht so genau mit der Geschichte. Schließlich werde auch heute noch Kindern im Heimatunterricht vermittelt, dass der Spiegelberg in der Stader Innenstadt ein natürlicher Geesthügel sei. "Ausgrabungen 1985 haben aber ergeben, dass der Berg aufgeschüttet wurde", sagt Bohmbach.

Langsam würde sich aber das Verhältnis der Stader zur Geschichte ändern. Zwar müssten die neuen Erkenntnisse besonders spektakulär sein, um Aufmerksamkeit zu erregen, aber das Interesse würde insgesamt wachsen. Bohmbach bedauert, dass der Umgang mit der Historik verkürzt sei: "Geschichte wird kurzatmig gesehen, was die Gefahr der Verflachung hat." Ob das künftig Fehler und Kuriositäten verhindert, sei offen.