Rosemarie Jähnichen überlässt dem Haus der Geschichte einen Nachkriegsspind, den ihr Vater Hans gebaut hat.

Neukloster. Plötzlich ist der Krieg wieder ganz nah: der Geschützdonner, die Bombennächte, die Flucht aus Dresden. Dabei will Rosemarie Jähnichen eigentlich von einem alten Schrank erzählen, den ihr Vater Hans 1946 aus sechs Panzerfaustkisten gebaut hat. Sie hielt ihn für historisch bedeutsam, und hat ihn deshalb dem Haus der Geschichte in Bonn geschenkt. Dort soll er, frühestens in zwei Jahren, in die überarbeitete ständige Ausstellung integriert werden.

Es ist kein sonderlich schöner Schrank, der da in einem Flur ihrer Möbelfirma in Neukloster steht. Staub liegt auf dem robusten Mobiliar, das Holz ist an einigen Stellen zerkratzt, die Türen schließen nur, wenn man sie kräftig drückt. Was hier zählt, sind die inneren Werte. Vor allem, weil das Möbelstück für Rosemarie Jähnichen eine andere Geschichte erzählt - die tragische Geschichte ihrer Familie, die am Ende des 2. Weltkriegs auseinander gerissen wurde und aus ihrer Heimat flüchten muss.

Februar 1945: Hans Jähnichen, der Mann, der den Schrank gebaut hat, ist kurz vor Kriegsende in britische Gefangenschaft geraten. Rosemarie Jähnichen, damals sieben Jahre alt, ihre Mutter und ihre Brüder Hans-Joachim und Bernhard leben in Dresden. Anfang 1945 sind sie dort auf sich allein gestellt. Dresden gilt als Lazarettstadt und relativ sicher. Doch sicher sind nur die Bomben, die in den Nächten auf die Stadt an der Elbe herabregnen.

Rosemarie Jähnichens Stimme stockt, sie ist den Tränen nahe. Wie viele Kinder der Kriegsgeneration ist sie traumatisiert. Auch nach 64 Jahren erinnert sie sich an jedes Detail. Wie sie und ihre Familie am 13. Februar Schutz vor den Bomben im Luftschutzkeller einer Brauerei suchen, wie sie durch Kriechgänge robbt, so eng, dass selbst sie als Siebenjährige kaum hindurch passt. Wie ihr ganzes Viertel abbrennt. Nur ihre Villa an der Hohen Straße hat den Explosionen getrotzt. Am Abend des 14. Februar fallen wieder Bomben. Danach steht auch ihr Haus nicht mehr. Da weiß ihre Mutter: "Wir müssen fliehen!" Angetrieben vom sich nähernden Geschützdonner der Roten Armee irren die Dresdner Flüchtlinge durch ein verheertes Land. Zwei Koffer hat ihre Mutter dabei, einen Handwagen - und die vage Hoffnung, ihren Mann Hans zu finden.

Die letzte Nachricht von ihm kam aus Oldenburg. Die Postkarte, die sie ihrem Hans geschrieben hat, erreicht ihn in den Wirren der letzten Kriegstage aber nicht mehr. Die Mutter kämpft sich und ihre Kinder durchs Niemandsland. Im Juni erreichen sie Oldenburg, voller Hoffnung. Doch sie werden bitter enttäuscht: Vom Vater fehlt jede Spur. "Eine absolute Katastrophe", sagt Rosemarie Jähnichen. Ihre Mutter, in den Monaten zuvor so stark, bricht zusammen.

Doch dann haben die Dresdner Glück. Von einer Frau, deren Mann in der Kompanie von Hans Jähnichen gedient hat, erhält sie einen Kassiber - eine geheime Nachricht aus britischer Gefangenschaft. Auf dem Zettel steht nur ein Wort: "Ritschermoor". Die letzte Etappe ihrer Odyssee führt sie ins Alte Land. Fremdes Land. Abgekämpft erreicht die Familie Hörne, noch am Abend geht es nach Ritschermoor.

Erinnerungen übermannen die alte Dame, ihre Stimme wird brüchig, sie muss tief Luft holen. "Dann sind wir, kurz vor 22 Uhr, in die Abendsonne gefahren und da, am Straßenrand, lief unser Vater", sagt Rosemarie Jähnichen unter Tränen. "Ein filmreifes Ende."

Auch finanziell gibt es ein Happy End. Zwar müssen sie anfangs mit dem Nötigsten auskommen und mit einer winzigen Wohnung in einer alten Stader Ziegelei Vorlieb nehmen. Doch dann schreiben die Jähnichens an der deutschen Wirtschaftswundergeschichte mit. Nach dem Krieg sind Rohstoffe rar, Holz auch. Jetzt schlägt die Stunde der schöpferischen Geister, der Erfinder. "Mein Vater konnte aus allem etwas machen", sagt Rosemarie Jähnichen. Lichtmasten und Schwellen werden in Stade benötigt - Hans Jähnichen besorgt sie. Als er in alten Armee-Beständen Panzerfaustkisten entdeckt, kauft er sie in großer Stückzahl auf, um von der Firma Wulf in Wiepenkathen daraus Wohnzimmerschränke fertigen zu lassen. Aus Munitionskisten! Zwei senkrecht, zwei in der Mitte, zwei am Fuß, fertig. Ausgerechnet die Symbole für Krieg und Zerstörung werden zum Sinnbild des Neustarts. 375 Reichsmark kostet so ein Möbelstück aus Fichtenholz damals. Jahre später, zum 120. Firmengeburtstag im Jahr 1989, kauft Hans Jähnichen einen Schrank für 680 Deutsche Mark in Duisburg zurück. "Der Schrank war schließlich unser erster Verkaufsschlager", sagt Rosemarie Jähnichen. Im März hat sie das Mobiliar dem Bonner "Haus der Geschichte" als Geschenk angeboten. Wochenlang prüften Historiker, ob das sperrige Stück der Aufnahme in die ständige Ausstellung würdig ist. Erst waren sie skeptisch. Vor gut drei Wochen gaben die Experten grünes Licht. Vermutlich schon in dieser Woche tritt das Möbelstück seine Reise an den Rhein an.

Für Hans Jähnichen war der Schrank - entstanden in der Zeit zwischen Niedergang und Neuanfang - ein Symbol für den Erfolg seiner Firma. Seine Tochter Rosemarie erinnert das wuchtige Möbelstück an die düsterste Episode ihres Lebens, aber auch an ihren verehrten Vater, dem sie nun stolz ein Denkmal setzen will. Im Haus der Geschichte dient er, wie die Museums-Historiker recht nüchtern versichern, "als schöne Ergänzung von Notbehelfen aus den ersten Nachkriegsjahren".