Der Landkreis Stade lässt die blauen Wildwarnreflektoren am Straßenrand wieder abbauen und erntet damit Unverständnis.

Das Corpus deliciti ist 15 Zentimeter hoch, knapp sieben Zentimeter breit und wiegt ganze 70 Gramm. Selbst die Polizei fand es gut und hat es sogar ausdrücklich empfohlen. Die Rede ist von jenen blauen Wildwarnreflektoren an Straßenleitpfosten, die plötzlich zum Politikum mutiert sind. Und nun sogar Niedersachsens Verkehrsminister Jörg Bode beschäftigen. Doch der Reihe nach.

2004 entwickelt der Bayreuther Jäger Konrad Löhnert einen neuartigen, Reflektor. "Blau deshalb, weil inzwischen wissenschaftlich erwiesen ist, dass Wildtiere nur grüne und blaue Farbtöne sehen können", sagt Löhnert. Blau gelte gar als regelrechte Schreckfarbe. Da sie in der freien Wildbahn praktisch nicht vorkomme, werde sie von den Tieren als fremd und potenziell gefährlich empfunden. Ganz im Gegensatz zu Rot und Orange, die lediglich als Grünabstufungen wahrgenommen werden.

Also stattet Löhnert einen halbrunden Grundcorpus aus wetterfestem Polypropylen mit einer Reflexfolie der Firma 3M aus, wie sie übrigens in Weiß oder Rot auch bei anderen Verkehrsschildern zum Einsatz kommt. Wo immer die neuartigen Reflektoren an der fahrbahnabgewandten Seite der Straßenleitpfosten verschraubt werden, sind die Rückmeldungen durchweg positiv. Abfragen in 411 Revieren mit insgesamt 1135,2 Straßenkilometern ergeben einen Rückgang nächtlicher Wildunfälle um 73 Prozent (Stand Januar 2012). Kaum verwunderlich, dass Löhnert seit 2005 500 000 seiner Reflektoren verkauft hat. Allein im Vorjahr waren es 120 000, in den ersten fünf Monaten dieses Jahres schon 80 000.

Diese Zahlen rufen auch die Jägerschaft in den Landkreisen Harburg, Stade und Lüneburg auf den Plan. Was im Süden der Republik funktioniert, müsste sich doch auch im Norden bewähren. Problemlos stellen die zuständigen Landesbehörden für Straßenbau und Verkehr die entsprechenden Genehmigungen aus. "Innerhalb von nur zehn Tagen habe ich im August 2011 und im März 2012 die notwendigen Genehmigungen von der zuständigen Landesbehörde für Verkehr und Straßenbau in Lüneburg bekommen", berichtet Hermann Martens, 64, Jagdpächter der Gemeinde Elstorf/Ardestorf.

Umgehend werden die Reflektoren entlang der B 3 in Richtung Norden und Süden angebracht. Vor allem da, wo Raps- und Maisfelder, beliebte Verweilorte von Wildschweinen und Rehen, bis an die Bundesstraße reichen. Mit verblüffenden Effekten. Bis zur Montage im September 2011 muss Martens insgesamt elfmal ausrücken, um nach Unfällen Wildkadaver von der Straße zu holen. Danach nur noch zweimal. "Und zwar an einer Stelle in der Nähe des Wasserwerks, wo wir keine Reflektoren montiert hatten", so Martens.

Auch im benachbarten Landkreis Stade sind die blauen Reflektoren zu Hunderten verschraubt worden. Bis die dort zuständige Verkehrsbehörde ihre Genehmigungen Ende April plötzlich widerruft und alle Jagdpächter auffordert, bereits montierte Reflektoren wieder zu entfernen. Auf Nachfrage des Abendblatts begründet Maren Quast, stellvertretende Leiterin des Geschäftsbereichs Stade, das Vorgehen mit einer entsprechenden Mitteilung auf der Homepage der Bundesanstalt für Straßenwesen (Bast). Darin wird die Effizienz der Reflektoren bestritten und sogar vor einer negativen Beeinflussung von Autofahrern durch reflektierendes Licht gewarnt.

Der Verweis auf die Bast-Mitteilung ist in mehrerlei Hinsicht pikant. Zum einen, weil sie bereits im Juli 2011 veröffentlicht worden ist. Und zwar auf der Grundlage einer Stellungnahme, die die Bast schon im April 2005 dem Schilderwerk im sächsischen Beutha zukommen ließ, das die Reflektoren produziert. So gesehen hätten die Landesbehörden Genehmigungen zur Montage zu keinem Zeitpunkt erteilen dürfen.

Zum anderen liegen aber inzwischen etliche Gutachten und Entscheidungen vor, die die ablehnende Haltung der Bast ad absurdum führen. Das Lichttechnische Institut der Uni Karlsruhe teilte im Juli 2009 in einem Gutachten mit: "Eine störende Wirkung durch diese Retro-Reflektoren (kann) unter normalen Verkehrsverhältnissen ausgeschlossen werden." Sowohl das Bayerische Innenministerium im November 2010 als auch der Landesbetrieb Mobilität Rheinland Pfalz im Oktober 2011 sprachen sich hernach ausdrücklich für den Einsatz der Reflektoren aus. Entsprechende Modellversuche hätten belegt, dass die Verkehrssicherheit nicht beeinträchtigt werde.

Dennoch liegen nun auch im Landkreis Harburg 3000 bereits bestellte blaue Reflektoren im Wert von 15 000 Euro auf Eis. Weil inzwischen auch die zuständige Verkehrsbehörde in Lüneburg keine Genehmigungen mehr erteilt.

"Die Bast hat entsprechende Hinweise gegeben, die müssen wir jetzt erst einmal prüfen", erklärte Bereichsleiter Dirk Möller. Sehr zum Ärger von Horst Günter Jagau, dem Vorsitzenden der Jägerschaft Landkreis Harburg: "Angesichts der Faktenlage kann ich diese Kehrtwende nicht nachvollziehen. Wie hier eine sinnvolle, gemeinsame Initiative von Jägerschaft, Polizei und Verkehrswacht ausgebremst wird, das ist schon jammerschade."

Auch Vertreter der Polizei zeigen sich überrascht. "Im Heidekreis, in Rotenburg, in Dannenberg hängen die blauen Reflektoren. Mir ist kein einziger Fall bekannt, wo sich Autofahrer beschwert hätten", sagt Dirk Poppinga, Verkehrssicherheitsberater der Inspektion Harburg. "Eine einheitliche Regelung ist jetzt aber dringend nötig."

Das sieht auch der CDU-Landtagsabgeordnete Heiner Schönecke so, der in einem Schreiben an Niedersachsens Wirtschaftsminister Jörg Bode "dringenden Handlungsbedarf" anmahnt: "Jeder Wildunfall, der verhindert werden kann, nutzt den Autofahrern, der Natur und dem Tierschutz." Laut Gesamtverband der Deutschen Versicherer gab es 2010 rund 243 000 Wildunfälle, für deren Regulierung 520 Millionen Euro aufgewendet werden mussten. Kein Wunder also, dass sich die VGH-Versicherung an der Elstorfer Reflektoren-Umrüstung spontan mit 500 Euro beteiligt hat.