1908 reiste der unbekannte Maler Friedrich Griesbach gen Süden. Sein Enkel Reinhardt Freudenberg aus Jesteburg hat die Tour nachvollzogen.

Mag sein, dass er ein Schöngeist war, ein Bohemien womöglich, vielleicht auch ein Lebenskünstler. Oder etwas von allem. Mit Sicherheit aber war Friedrich Griesbach ein akribischer Chronist. Die Geschichte, in der er das größte Abenteuer seines Lebens schildert, beginnt schlicht und ergreifend: am Anfang. "Am Montag, den 19. Oktober 1908 reiste ich mit der Eisenbahn von Hamburg nach Bevensen." Wie bescheiden dieser Einstieg ist! Wer hier aufhört zu lesen, der wird nie erfahren, was Friedrich Griesbach eigentlich erzählen will und wohin er wirklich gereist ist. Nicht ins Wendland. Sondern nach Italien. Nicht mit der Eisenbahn. Sondern größtenteils zu Fuß. Einen ganzen Winter lang.

Aber so weit sind wir noch nicht. "Am Abend (des nächsten Tages, d. Red.) bin ich dann fort nach Karlsruhe zu meinem Freund Georg Orthmann gefahren und habe bei ihm geschlafen. Er hatte mich schon längst erwartet, und seine Sachen für die Reise waren schon gerichtet. Dennoch haben wir am nächsten Tag noch einiges eingekauft: einen Rucksack für mich und Zeichenkarton und Tusche. Georg hat sich noch einen Herrenwollmantel gekauft für 6 RM, der erst 8,50 RM kosten sollte, eine Hose für 3,50 statt 4,12 RM." Ja, Friedrich Griesbach war auch ein sorgfältiger Buchhalter.

Was sich offenbar vererbt hat, und da kommt Griesbachs Enkel ins Spiel: Reinhardt Freudenberg aus Jesteburg. Pensionierter Finanzbeamter. Der Mann, dem zu verdanken ist, dass nun jeder an den abenteuerlichen Erlebnissen seines Großvaters teilhaben kann. Der Mann, der die Aufzeichnungen als möglicherweise Erster überhaupt gelesen hat. Der ein Juwel gehoben hat, ein geniales, weil aus der Perspektive eines unbekannten Jedermann geschriebenes Stück Zeitgeschichte. Er hat ein Buch darüber geschrieben.

+++ Der Autor +++

+++ Lesung in Stelle +++

Reinhardt Freudenbergs Geschichte beginnt mit dem Tod seiner Mutter vor 16 Jahren. "Ich fand in ihrem Kleiderschrank eine schwarze Mappe. Darin waren Skizzen, Postkarten - und ein kleines schwarzes Buch. Ein Tagebuch." Der heute 67-Jährige hatte seinen Großvater, der schon 1922 gestorben war, niemals kennenlernen können. "Aber ich wusste, dass er Maler war", sagt Freudenberg. "Anstreicher genau genommen. Aber ein kunstbegeisterter." Der Fund ließ ihn nicht mehr los. Und je mehr er las, je mehr Zeichnungen und Aquarelle er sich ansah, desto sicherer war er sich: Ich will diese Reise, die mein Großvater beschreibt, unbedingt nachvollziehen.

Von Karlsruhe zu Fuß am Bodensee vorbei in Richtung Schweiz. Weiter zum Vierwaldstädter See und dann Richtung Gotthard-Pass: "Es regnet, und Mantel und Hut und Stiefel sind völlig durchnässt. Gegen halb 6 treffen wir in Giornico, einem kleinen Dorf, ein. Wir übernachten im "Ristorante della Poste" bei L. Gruzzi und zahlen 60 Cent für ein kleines Bett. Hinter dem Gotthard ist alles italienisch."

Weiter über Como nach Mailand. Dort darf Friedrich Griesbach nicht im asylo notturno nächtigen, warum auch immer. Ganz allein streift er durch die nächtliche Stadt, ist zunächst arglos, als ihn Räuber in eine Falle locken wollen ("In Italien hatten uns schon böse aussehende Buttjer freundlich Bescheid gesagt"). Schließlich leistet er sich ein Zimmer im Hotel Genova, wo nur "feine Herrschaften in Lack und Frack" verkehren. "Ein Zimmer kostete 2 Franken (nur schlafen, ohne Trinkgeld, Kaffee, Schuhe putzen)." Griesbach zieht seine schmutzigen Stiefel aus und kramt das Geld aus deren Spitzen hervor. Ein sicheres Versteck.

Weiter geht's nach Genua, von dort mit dem Schiff ("MS Sachsen", vierte Klasse) nach Neapel. Zum Vesuv, nach Sorrent und dann wieder gen Norden. Nach Rom. Friedrich Griesbach besichtigt die Sixtinische Kapelle. Er hat Heimweh: "Ich habe ordentlich Sehnsucht nach einem reellen Butterbrot. Wenn ich an unsere Heidemettwurstbutterbrote denke, läuft mir das Wasser im Munde zusammen. Das Essen der italienischen unteren Volksklasse ist belämmert. Die ewige Pasta und die Polenta sind einfach scheußlich."

Pisa, Florenz, Venedig. Das Geld wird knapp. Am 12. Februar 1909 etwa berichtet Friedrich Griesbach - um diese Zeit offenbar schon ziemlich abgebrannt - aus Mestre vor den Toren der Lagunenstadt: "Es ist eine miserable Empfindung, jeden Morgen, wenn ich mein Fetzenhemd überstreife, das voller Läuse sitzt, und ich sie nicht absuchen kann. Am Tage piesacken mich die Quälgeister ganz furchtbar." Es hat seit Tagen geregnet, die kaputten Stiefel sind "quatschnass". "Innen und außen".

Zu diesem Zeitpunkt müssen die beiden Wanderer schon einen gewissen Landstreicher-Status gehabt haben. In Venedig schlafen sie in einem sogenannten Asyl - ein Dach über dem Kopf, das ihnen erzwungenermaßen zuteil wird. Reinhardt Freudenberg hat recherchiert: "Nachts wurden die Türen von außen abgeschlossen. Die Reichen zahlten für diese Unterkunft, damit sie abends auf den Straßen nicht angebettelt wurden." Über Bozen und dann - zu Fuß bei Schnee - über den Brenner gelangen Friedrich Griesbach und sein Freund nach Deutschland. In München trennen sich ihre Wege, Friedrich Griesbach steigt in die Eisenbahn.

Reinhardt Freudenberg, Großbetriebsprüfer in der Stader Finanzverwaltung, muss sich nach dem Fund noch neun Jahre gedulden, ehe er vorzeitig in Pension geht und sich in den folgenden Jahren nahezu hauptberuflich den Reisevorbereitungen widmet. Wo war der Großvater gelaufen, wo hatte er geschlafen, welche Eindrücke hatte er von unterwegs mitgenommen?

Ja, Reinhardt Freudenberg will dieselben Eindrücke gewinnen wie sein Großvater. Einerseits. Aber nein, jede Erfahrung muss er dann vielleicht doch nicht teilen. Er entscheidet sich schlussendlich für deutlich zeitgemäßere und weitaus komfortablere Wanderstiefel als der Großvater: seinen schwarzen Audi A3 - und vereinzelt auch Flugzeuge.

In die großen Städte fliegt er allein, besucht dieselben Galerien wie Friedrich Griesbach, stöbert in Archiven, spürt den beschriebenen Herbergen nach. Über Land fährt er später mit seiner Frau Barbara, 59. Und mit der 14-jährigen Mischlingshündin Stella. Im Badeort Folonica nahe der Hafenstadt Livorno ist der Bürgermeister so begeistert von dem Projekt des Deutschen, dass er umgehend eine Friedrich-Griesbach-Ausstellung im Rathaus organisieren lässt. Reinhardt Freudenberg ist zur Eröffnung dabei.

Auch Reinhardt Freudenberg ist ein akribischer Chronist. Er hat versucht, so detailliert zu erzählen wie sein Großvater. Wo er in Lugano sein Auto geparkt hat. Dass vor dem Flug nach Mailand die Gepäckaufgabe reibungslos funktioniert hat. Dass er in der Boeing 737-700 in Reihe 5 auf Platz A gesessen hat. Und wie die Sitzbänke in Mailänder Straßenbahnen angeordnet sind...

Beide Geschichten enden, wo es akribischen Chronisten angemessen zu sein scheint: am Schluss. Der Großvater schreibt: "Am Dienstagabend, den 9. März, traf ich in Verden ein. Endlich wieder zu Hause! Ich wurde herzlich empfangen."