Spektakuläre Funde, die die Menschheitsgeschichte geprägt haben. Professor Rainer-Maria Weiss stellt sie vor. Heute: eine Richtstätte bei Salzhausen.

Salzhausen. Wer um 1300 nach Salzhausen kam, der sah sie schon von weitem: die Richtstätte auf dem Passberg, heute Gallaberg. Der Galgen, der bis etwa 1570 benutzt wurde, war so konstruiert, dass daran gleich mehrere Delinquenten gleichzeitig aufgehängt werden konnten. Um 1300 errichtet, gilt das Galgenensemble als eines der ältesten Europas.

"In unmittelbarer Nähe befanden sich auch ein Scheiterhaufen und ein Rad, auf das die Verurteilten nach dem grausamen Prozedere des Räderns geflochten wurden", sagt Rainer-Maria Weiss, Direktor des Archäologischen Museums Hamburg. Der Ort, an dem heute nur noch ein Gedenkstein an die Schreckensstätte erinnert, gibt den Archäologen viele Rätsel auf. "Über das Gericht zu Salzhausen, das sogenannte Gogericht, das neben der Kirche abgehalten wurde, gibt es nur spärliche Informationen", so Weiss. Ob dort auf dem Berg Mörder, Ketzer oder Räuber hingerichtet worden seien, darüber lägen keine Quellen vor. Viele Archive seien in den Wirren des 30-jährigen Krieges 1618 bis 1648 zerstört worden.

Nach dem letzten Todesurteil, das 1570 gefällt wurde, geriet der Schreckensort in Salzhausen offenbar in Vergessenheit. Bis man 1970 damit begann, Sand auf dem Passberg abzubauen. Bei den Baggerarbeiten wurden prompt Knochen zutage gefördert.

Die Archäologen machten schaurige Entdeckungen: Besonders gruselig ging man mit den abgeschlagenen Köpfen der Toten um: Bei manchen Leichen fand sich der Schädel regelrecht unter den Arm geklemmt, bei anderen wurde er zwischen den Händen in der Bauchgegend platziert. Einige der bislang 18 gefundenen Skelette sind im Archäologischen Museum ausgestellt.

"Sicher erscheint, dass diese Menschen auf der Salzhausener Richtstätte geköpft worden sind", sagt der Museumsdirektor. "Außerdem wurde Straftätern damals keine christliche Bestattung gewährt. Sie hatten nach zeitgenössischen Vorstellungen durch ihre Tat das Recht auf den Eintritt ins Himmelreich verwirkt", so Weiss. Bei regulären christlichen Bestattungen wurden die Toten in Rückenlage begraben, den Blick nach Westen gerichtet, die Hände auf der Brust gefaltet. Die Gehenkten wurden indes einfach verscharrt. "Man nennt diesen pietätlosen Vorgang auch Verlochen", so Weiss. Dass sich in manchen Gräbern gleich drei Leichname lagen, lasse auf eine Massenhinrichtung schließen.

Hängen sei die am meisten ausgesprochene Todesstrafe gewesen, gefolgt von Köpfen und Rädern. Beim Rädern wurden die Verurteilten zunächst auf den Boden gelegt. Dann schlug der Scharfrichter mit einem riesigen Kutschrad gezielt auf Arme und Beine, bis alle Knochen gebrochen waren. Kannte der Büttel Gnade, so erschlug er den Verurteilten sofort. Wenn nicht wurde der Delinquent lebend aufs Rad gebunden - eine grausame Tortur und sicherlich ein strafverschärfendes Mittel.

"Es gab auch noch eine Menge anderer Strafen, quasi ein Arsenal des Schreckens, wie Verbrennen, Ertränken, Pfählen und Entdärmen", so Weiss. Tagelang hätten die Gehängten dann noch am Galgen gebaumelt, als Abschreckung für die Bevölkerung. Richtstätten gehörten damals zum Landschaftsbild wie Aussichtstürme oder Windmühlen. "Das war nichts Ungewöhnliches und zeigt die Akzeptanz des Rechtssystems. Gleichzeitig galten diese Orte als Machtmanifestation der Obrigkeit", sagt Weiss. So finden Archäologen Galgen an Ausfallstraßen, vor Dörfern und Städten oder bei Burgen.

Davon abgehalten, Verbrechen zu begehen - "damals reichte schon ein Pferdediebstahl, um aufgeknüpft zu werden", so Weiss - hat es die Menschen offenbar nicht. Und das, obwohl Hinrichtungen Pflichtveranstaltungen für die Bewohner waren. Und das nicht nur aus Präventionsgründen. Vorgeführt werden sollte auch der Ehrverlust. Weiss:"Die Missetäter wurden von den Leuten beschimpft und beleidigt, die letzten Eindrücke des Delinquenten vor dem Tod sollten besonders bitter sein."

Vielleicht auch ein Grund, weshalb sich die Salzhausener über die Hinrichtungsstätte ausschweigen. Wenn es eine Sage über den Passberg gibt, dann jene über den reichen Römer, der während eines Sandsturms am Passberg umkam und mitsamt seiner Kutsche und einem Goldschatz im Inneren des Bergs begraben liegen soll.

Schauergeschichten vom Gallaberg sind rar. Hartnäckig hält sich bis heute das Gerücht von einer Frau aus Raven, die mit ihren beiden Töchtern im 16. Jahrhundert als Hexen verbrannt worden war. "Fundierte Erkenntnisse darüber gibt es allerdings nicht", sagt der Landesarchäologe. Wohl aber über das mittelalterliche Rechtssystem. Während heutzutage das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu den wichtigsten Grundwerten der Gesellschaft zählt, war das im Mittelalter ganz anders.

Hinweise auf die Art der Gerichtsbarkeit liefern Aufzeichnungen wie der um 1200 verfasste Sachsenspiegel, der das Landrecht erstmals schriftlich festhielt. Ziel von Strafen waren Abschreckung und Sühne. Die Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft, heute ein wichtiges Anliegen der Justiz, spielte keine Rolle. Während der Verhandlung wurde oft die Folter angewandt, um zu einem Geständnis zu kommen. Symbolisch wurde dann ein Stab über dem Angeklagten gebrochen. Ein Zeichen, dass das Urteil zum einen galt, zum anderen vollstreckt wurde.

Schon bei geringfügigen Vergehen, die Richter unserer Zeit vielleicht nur mit einem Bußgeld oder einer Bewährungsstrafe ahnden würden, wurden im Mittelalter häufig Verstümmelungen und Folter bis zum Tod angeordnet. Während Mörder manchmal vor Gericht noch davonkamen und man von ihnen lediglich verlangte, Sühnekreuze aus Stein als Wiedergutmachung aufzustellen, kamen als Ketzer oder Hexe Angeklagte mit Sicherheit an den Galgen oder auf den Scheiterhaufen.

In diesen Fällen endete die Demütigung der Opfer nicht einmal nach dem Tod: Dass Leichen in Verlochungen ihren Schädel unter dem Arm tragen, wie jene vom Gallaberg, war durchaus üblich. "Man glaubte an Wiedergänger, also dass sich der Geist des Delinquenten am Richter oder seinen Häschern rächen könnte. Liegt der Kopf, in dem nach dem Volksglauben die Seele beheimatet ist, aber neben dem Skelett, konnte der Tote nach mittelalterlichen Vorstellungen nicht mehr auferstehen", sagt Weiss.

Längst gehören diese Vorstellungen der Vergangenheit an. Nicht jedoch die Diskussionen um die Todesstrafe, Abschreckung und Prävention. Weiss: "Erst 1945 wurde in Deutschland die Todesstrafe abgeschafft. In vielen Ländern gibt es sie aber noch - teilweise aus demselben Moralverständnis heraus, wie im Mittelalter".

Online:Wer die vorangegangenen Folgen verpasst hat, findet sie unter www.abendblatt.de/schaetze ; Das Abendblatt-Video zur Serie: www.abendblatt.de/ausgrabungsschaetze

Am kommenden Montag berichtet Museumsdirektor Rainer-Maria Weiss über die Erkenntnisse von Archäologen zu Funden aus dem Zweiten Weltkrieg.