Die Obstbaumblüte lockt rund 100 000 Touristen aus ganz Deutschland nach Jork und sorgen für Ausnahmezustand im Alten Land.

Jork. Quartiernot und Verkehrschaos, aber dennoch strahlende Gäste, die bereits voller Vorfreude auf das Blütenfest am Wochenende sind: Es ist höchste Eisenbahn, die Obstblüte im Alten Land zu erleben. Die Kirschblüten sind bereits vom Wind verweht, Apfelbäume tragen noch ihren Schmuck. Und in Jork, Steinkirchen und Moorende geht jetzt zeitweise gar nichts mehr. Blechkarawanen schleichen durch das Obstparadies. Die Besucher kommen von Aachen und Zeitz, Bingen und Bielefeld, Uelzen und Uerdingen, Dresden und Dortmund, Kiel und Kaufbeuren.

Rund 100 000 Gäste reisen zur Blütezeit zu uns", sagt Ana Breckwoldt vom Tourismusverein Altes Land in Jork. Bei etwa 300 Privatvermietern sowie 20 Hoteliers und Pensionsbetreibern finden die Gäste Quartier. Zusätzlich wird der Umsatz von den Tagesgästen angekurbelt. Sie geben, so Tourismusexpertin Breckwoldt, rund 40 bis 50 Euro aus.

Eitel Sonnenschein, Fotowölkchen und eine maritime Brise von der Elbe lockt eine besondere Spezies an. Von den Altländern wird sie liebevoll "Blütenspanner" genannt, und sie ist an Fotoapparat und Fahrstil gut erkennbar. Sie radeln gern nebeneinander, um besser plaudern zu können, und wo das Alte Land sich von seinen schönsten Seiten zeigt, wollen sie nichts verpassen.

In Twielenfleth beim Alten Leuchtturm, mitten auf der Kreuzung, lässt ein Münchener Ehepaar seinen Pkw stehen. "Wir wollen nur mal über'n Damm gucken", sagt die Frau.

Auch die Obstbauern kennen die Besonderheiten der Blütenspanner. Sie schleichen um Häuser und über Höfe, huschen zwischen blühenden Obstbäumen umher und knipsen einfach alles. Aber die Altländer sind sehr gastfreundlich und drücken beide Augen zu. Das fällt ihnen leicht, zumal ihre Besucher nicht nur schwer ins Schwärmen geraten sondern auch ordentlich Geld hier lassen.

"Wir sind zum ersten Mal hier und finden alles einfach wunderschön", sagen Gisela Bietz und Günter Heitmann aus Rostock, "der Elbdeich, die prächtigen Häuser, die blühenden Bäume und unser Quartier in der alten Schmiede in Jork." Marlis und Erhard Francke aus Laboe bei Kiel sind ebenfalls auf Genusstour: "Es ist traumhaft, Deiche, Wind und Wasser, die Blütenpracht und die herrlichen Häuser. Ich habe in Jork all die kunstvollen Türen fotografiert", sagt Marlis Francke. Als Zwölfjährige sei sie mit ihren Großeltern im Alten Land gewesen und habe immer davon geträumt, es noch mal wiederzusehen. Die beiden Tagesausflügler strahlen sich an: "Wir hatten einen herrlichen Tag."

Damit das möglichst viele Gäste sagen, ist Martina Matthies vom gleichnamigen Obsthof in Jork-Borstel in ihrem Zeitmanagement gefordert. Sie begrüßt die Reisegruppen, die busseweise anrollen, zeigt den Weg zur Toilette, beantwortet Fragen, organisiert die Fahrten mit dem Blütenexpress und gibt Empfehlungen zu Altländer Spezialitäten. Eine Reisegruppe verspätet sich, steht noch in Jork am Kreisel im Stau. Das bringt Turbulenzen in den Terminplan. Eine Reiseleiterin telefoniert hektisch. Martina Matthies behält die Ruhe. Sie schaut auf den Terminplan, disponiert um und lässt schon wieder frischen Kaffee für den neuen Besucherstrom aus dem Oldenburger Reisebus ansetzen.

Im gläsernen Kaffeebereich rasten auch die 50 Gäste aus Bielefeld. "Wir sind die Frauengruppe der evangelischen Kirchengemeinde und haben einen unvergesslichen Tag erlebt. Blütenpracht, Elbdeich und die großen Schiffe und das hübsche Städtchen Stade. Dazu fantastisches Wetter und ein aufgefüllter Apfelvorrat", schwärmt Christel Reckmann.

Im Verkaufsraum vom Obsthof Matthies geht indessen kein Apfel mehr zu Boden, so voll ist es. Hier werden Apfelsorten verkostet, Geruchsproben von Gewürzen genommen, am Kühlregal Altländer Schinken befühlt, Schnäpse und Souvenirs zur Kasse getragen und natürlich Erinnerungsfotos gemacht.

"Wir kommen aus der Altmark", sagt Christine Meyer, Vorturnerin der Frauen-Gymnastikgruppe Ahrendsee. "Wir wollten das Alte Land kennenlernen, nachher noch eine Tour mit der Lühe-Fähre machen." Von hinten ruft eine Turnschwester: "Welche Äppel nimmste denn mit, Elstar?" Christine Meyer entscheidet sich für "Delba", den hatte sie noch nie. Die Altmärkerinnen verstehen was von Äpfeln, schließlich gab es in ihrer Heimat zu DDR-Zeiten große Obstplantagen mit bodenständigen Sorten. Christel Röhl, Angela Buchholz, Elisabeth Sänze, Inge Büscher und Wilma Pandler probieren sich durch das Angebot und bestätigen: "Das Seeklima macht die Altländer Äpfel irgendwie besonders frisch im Geschmack."

Inzwischen rollt die verspätete, staugestresste Busgesellschaft aus Uelzen auf den Matthies-Hof. Die Obstbäuerin steht schon im Bus und stellt das Programm vor, bevor die Besucher die Toiletten stürmen. Obstbauer Wilhelm Matthies macht derweil seinen Blüten-Express startklar.

"Hier fährt der Chef seine Gäste selbst", sagt Rolf Burmeister von der Reisegesellschaft aus Oldenburg. "Die Fahrt mit dem Blütenexpress war für mich das Schönste. Bauer Matthies hat alles über den Obstbau, Borkenkäfer und Frostbesprühung der Blüten so gut erklärt, dass ich mit ganz viel neuem Wissen nach Hause fahre." Und dann sagt Burmeister: "So ein Tag mit Kaffee satt und köstlichem Kuchen, das ist doch echt 'ne Wucht."

Wilhelm Matthies lässt den Trecker an, der die zehn Anhänger des Obstkisten-Express' durch die blühenden Baumreihen zieht. Die Passagiere haben ihre Kapuzen hochgezogen, weil ein paar Regentropfen fallen. Aber aussteigen will keiner, die Neugier überwiegt. So was Schönes habe ich noch nie erlebt, ruft einer der Express-Passagiere, bevor die Waggonschlange zwischen Apfelbaumreihen verschwindet.

Zeit für Busfahrer Wilfried Hahlbohm, durchzuatmen. Der Uelzener sagt, er habe den besten Job, den man sich nur wünschen könne. "Immer zur Blütezeit fahre ich Reisegruppen durch das Alte Land und erlebe die Freude der Leute. Das Alte Land ist nicht zu toppen, Blüten, so gepflegte Häuser, das Maritime hinterm Deich und die Gastfreundschaft der Leute."