Buxtehuder Architektur-Studenten testen im Rollstuhl die Barrierefreiheit der Altstadt

Buxtehude. Der Bordstein an der Langen Straße ist nur drei Zentimeter hoch, doch für Vanessa Jack stellt er ein unüberwindliches Hindernis dar. Mit aller Kraft versucht die Studentin der Buxtehuder Hochschule 21, ihren Rollstuhl über den Rand zu hieven - vergebens. Nur mit Hilfe ihrer Kommilitonin schafft sie es letztlich. Von Barrierefreiheit ist zumindest in diesem Teil der Buxtehuder Altstadt keine Spur.

"Uns geht es nicht darum, Mängel und Fehler in der Bauplanung aufzuzeigen", sagt Professor Jasper Herrmann. Vielmehr wolle er seine Studenten für das Thema Barrierefreiheit sensibilisieren. Die 31 angehenden Architekten, Studenten des Studiengangs "Bauen im Bestand", sollen ihre ganz persönlichen Erfahrungen machen. Sie sollen hautnah spüren, wie es ist, im Rollstuhl zu sitzen. Deshalb hat der Professor sie zu einer Rollstuhl-Rallye durch Buxtehude geladen.

Schon nach 200 Meter würden die ersten am liebsten wieder umdrehen. "Puh, meine Arme!", sagt eine Studentin, als sie die Steigung zur Ampel an der Ecke Harburger/Hansestraße bezwungen hat. Die dicke Jacke ist ihr zu warm geworden und liegt auf dem Schoß - Rollstuhlfahren kann eine ganz schön schweißtreibende Angelegenheit sein. In alle Himmelsrichtungen schwärmen die Studenten aus, per Rollstuhl und Rollator sollen sie die Altstadt vom Bahnhof bis zur Altstadt erkunden.

"Sie werden keine Stadt auf der Welt finden, in der alles barrierefrei ist", sagt Jasper Herrmann. Es sei utopisch, alles ohne Stufen, glatt und ebenerdig gestalten zu wollen. Trotzdem glaubt er, dass die Gesellschaft vor dem demografischen Wandel nicht die Augen verschließen könne. Denn Barrierefreiheit sei nicht nur für Rollstuhlfahrer wichtig, auch ältere Menschen, die schon etwas wackelig auf den Beinen sind, könnten steile Treppen oder holprige Pflastersteine meist nicht überwinden.

"Das Problem ist, dass sich viele Bauplaner dieser Sache gar nicht bewusst sind", sagt Herrmann. Erst wer in der Fußgängerzone mit seinem Rollstuhl einmal in einer Wasserrinne hängen geblieben ist, weiß, dass dann eigentlich Unbedeutendes wie eine Rinne plötzlich ganz bedeutungsvoll wird. Auch Simon Eberhard bekommt es zu spüren. Der Student will schwungvoll über eine Brücke am Viverdamm rauschen, doch auf halber Strecke kommt ihm der Schwung abhanden. "Oh Mann, das ist echt nicht leicht", gibt er zu und rollt mit letzter Kraft auf die Mitte des Bauwerks. Dafür geht's auf der anderen Seite mit ordentlich Karacho herunter.

Zum Bezahlen muss sich die Studentin ganz schön strecken

Vanessa Jack braucht jetzt erst mal ein Eis. Doch wie sich bemerkbar machen vor dem hohen Tresen? Sieht der Verkäufer sie überhaupt? Ja, nach einiger Zeit sieht er sie, und reicht ihr schließlich die Eistüte über den Tresen herüber. Zum Bezahlen muss sich die Studentin ganz schön strecken, um dem Mann das Geld in die Hand zu drücken. Irgendwie wäre ein niedriger Verkaufsbereich eine praktischere Sache gewesen. Diese Erkenntnis brennt sich bei Vanessa Jack ins Gedächtnis.

Thomas Berg beobachtet das Geschehen in der Westfleth-Passage. Der Buxtehuder Arzt ist mit seiner Tochter Katharina in der Stadt unterwegs. Katharina ist 21 Jahre alt und sitzt seit ihrer Geburt aufgrund einer Muskelerkrankung im Rollstuhl. "Um den Fleth herum ist es mit dem Rollstuhl besonders schwer", sagt Berg. Er entschließt sich spontan, die Aktion der Studenten zu begleiten. "Es ist wichtig, dass Nicht-Betroffene über die Probleme Bescheid wissen." Aber in anderen Ländern sei es für Menschen mit Behinderung noch viel schwieriger als in Deutschland, fügt er hinzu.

Uwe Arndt weiß ebenfalls, wie es sich als Rollstuhlfahrer anfühlt. Der Bürgermeister von Ahlerstedt ist nach einem Unfall vor 13 Jahren vom Brustbereich an abwärts gelähmt. Er hat Jasper Herrmann bei der Umsetzung der Rallye beraten und will jetzt sehen, wie sich die jungen Leute in den für sie ungewohnten Gefährten schlagen. "Man muss sich sehr konzentrieren", sagt Arndt. Auf den Verkehr, die Straßenverhältnisse und das Fahren des Rollstuhls selbst. Vorausschauend müsse man sich im Rollstuhl bewegen, weil plötzliche Hindernisse wie zu hohe Bürgersteige manchmal zur unlösbaren Aufgabe werden können. Und dann komme man ohne die Hilfe fremder Menschen nicht mehr weiter.

In viele Geschäfte käme die Studentin ohne Hilfe nicht hinein

Vanessa Jack hat inzwischen den Rollstuhl an ihre Kommilitonin übergeben. Jetzt darf die sich über abschüssige Wege und spitze Kanten quälen. "Morgen hab' ich bestimmt Muskelkater in den Armen", sagt sie. Dass das Rollstuhlfahren mit so vielen Hindernissen verbunden ist, hätte sie nicht gedacht. "Wenn mir an den Eingängen niemand geholfen hätte, wäre ich in viele Geschäfte gar nicht reingekommen."

Auch Jasper Herrmann glaubt, dass seine Studenten ihre Erfahrungen sicherlich mit in ihr späteres Berufsleben nehmen. "Man kann nicht ganze Städte barrierefrei umgestalten", sagt er. Trotzdem ist er überzeugt, dass schon ein paar mehr abgerundete Kanten bei Straßenbelägen ein Fortschritt sein können. "Es sind nur kleine Dinge, aber sie verbessern das Leben der Behinderten ungemein."