Wedel. Marianne Wilke erinnerte bis zuletzt in Vorträgen an die Nazi-Verbrechen. Was sie mit der Punkband Die Ärzte verband.

Wenn Marianne Wilke aus der dunkelsten Zeit ihrer eigenen, schlimmen Vergangenheit unter der NS-Diktatur in ihren Vorträgen erzählte, dann hörten die Schüler aufmerksam zu: „Als ich sechs Jahre alt war, spielte ich draußen mit meinem Bruder. Ein Junge kam zu uns und rief: ,Meine Mutter sagt, ihr seid Juden!’ Danach rannte er weg. Mein Bruder und ich waren perplex. Wir wussten doch gar nicht, was Juden sind.“

Diese Worte richtete die Wedelerin, die am 29. Juli 1929 in Hamburg unter ihrem Mädchennamen Lehmann geboren worden war, in der Aula des Wolfgang-Borchert-Gymnasiums in Halstenbek im Vorjahr an die Abiturienten.

Zeitzeugin der NS-Verbrechen aus Wedel: Marianne Wilke stirbt im Alter von 93 Jahren

Nun ist eine der letzten Zeitzeugen aus dem Kreis Pinneberg, die öffentlich und bis zuletzt mit größtmöglicher Vehemenz über die Verbrechen der Nationalsozialisten berichtete, am Montag, 17. Juli, kurz vor ihrem Geburtstag im Alter von 93 Jahren in Wedel im Beisein ihrer Söhne friedlich eingeschlafen. Noch im Juni stand sie Schülern in Bad Oldesloe Rede und Antwort.

Marianne Wilke stand Schülern stets Rede und Antwort: Unter anderem in diesem Jahr für die Veranstaltung „Warum die Nazis Angst vor Pünktchen und Anton hatten.“
Marianne Wilke stand Schülern stets Rede und Antwort: Unter anderem in diesem Jahr für die Veranstaltung „Warum die Nazis Angst vor Pünktchen und Anton hatten.“ © Frederik Büll

„Sie hat es als ihre Pflicht gesehen und es sich bis zum Ende zur Aufgabe gemacht, sich für eine friedliche Welt ohne Faschismus einzusetzen“, sagt Irmgard Jasker, die Wilke seit mehr als 50 Jahren kannte.

Friedensaktivistin Irmgard Jasker lud Wilke immer zum Mittagessen ein

Wilkes Mann Günther, Journalist, Antifaschist und Friedensaktivist, verstarb 2019 im Alter von 89 Jahren., Das Ehepaar war 1981 ins selbe Haus in der Moorwegsiedlung gezogen, in dem auch das Ehepaar Jasker wohnt.

Marianne Wilke und ihr Bruder Helmut, Ende der 1930er Jahre in Hamburg
Marianne Wilke und ihr Bruder Helmut, Ende der 1930er Jahre in Hamburg © Privat

Tagtäglich bekochte die 79 Jahre alte Jasker, ebenfalls bereits Jahrzehnte in der Wedeler Friedensbewegung aktiv, ihre langjährige Freundin.

„Mir hat immer sehr imponiert, mit welcher Fröhlichkeit und Heiterkeit sie in ihren Vorträgen all den Schülern vermittelt hat, dass sie nicht schuld seien an den Geschehnissen von damals“, sagt Jasker. Auch vor Soldaten und Polizisten hielt die Friedensaktivistin ihre Vorträge.

Wedeler Holocaust-Überlebende zitiert Ärzte-Song

Stets zitierte Wilke zum Abschluss ihrer Schulvorträge eine Songzeile der Punkband Die Ärzte: „Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Es wäre nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.“

„In Schleswig-Holstein stand Marianne an der Spitze der Bedeutung, wenn es um den Kampf gegen den Faschismus geht“, so die Wedeler Friedensaktivistin Jasker. 2015 erhielt Marianne Wilke das Bundesverdienstkreuz.

Bundesverdienstkreuz wegen „herausragender Verdienste in der Erinnerungsarbeit“

In der Begründung hieß es: „Marianne Wilke hat sich über Jahrzehnte herausragende Verdienste in der Erinnerungsarbeit erworben und zeigt ein nachhaltiges Wirken im Kampf gegen Rechtsextremismus. (…) Sie tritt stets dafür ein, dass das historische Geschehen vor allem im Gedächtnis künftiger Generationen wach gehalten wird.“

Im Vorjahr erzählte die damals 92 Jahre alte Marianne Wilke den Schülern des Wolfgang-Borchert-Gymnasiums von ihrer Zeit unter der NS-Diktatur.
Im Vorjahr erzählte die damals 92 Jahre alte Marianne Wilke den Schülern des Wolfgang-Borchert-Gymnasiums von ihrer Zeit unter der NS-Diktatur. © Johanna Wagner

Die Familie ihres Vaters war jüdisch – Religion habe allerdings nie eine Rolle gespielt. Doch die Nazis machten keine Unterschiede. Der unmenschliche Antisemitismus griff nach der Machtergreifung 1933 immer stärker um sich. Sie wurde von de Nationalsozialisten „Halbjüdin“ genannt.

Wedelerin Wilke: „Müssen wir aus Deutschland weg?“

Wilke lauschte damals den Gesprächen der Erwachsenen. „Es drehte sich immer um zwei Fragen“, erinnerte sie sich: „Kann es noch schlimmer werden? Und müssen wir aus Deutschland weg?“, erzählte Marianne Wilke den Halstenbeker Gymnasiasten.

Hochzeit von Marianne und Günther Wilke im April 1952,
Hochzeit von Marianne und Günther Wilke im April 1952, © Privat

Onkel und Tante hatten sich zuvor noch in Sicherheit bringen können, für Marianne und den Rest der Familie Lehmann war die Flucht spätestens mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 nicht mehr möglich. Drei Jahre zuvor war Marianne Wilke in Hamburg eingeschult worden: „Es war, als stände zwischen mir und meinen Mitschülerinnen eine Glaswand“, umschrieb sie es. Das schlimmste Fach sei Biologie gewesen,

Rassenlehre in der Schulzeit: Keine Mischung mit jüdischem Blut

„Wir lernten, dass es unterschiedliches Blut gäbe, das jüdische und das deutsche, und dass sich beide niemals mischen dürften. Da wurde mir klar: Das betrifft ja meine Eltern!“ Regelmäßig hätten SS-Mitglieder ihre Mutter angeschrien, sie solle sich von ihrem jüdischen Mann scheiden lassen. „Gott sei Dank hat sie das nie gemacht. Mein Vater wäre sonst nicht am Leben geblieben“, sagte Wilke.

Einige Familienmitglieder überlebten den Holocaust nicht, ihr Vater überstand einen KZ-Aufenthalt. Wilke zeigte in ihren Vorträgen auch Lebensmittelmarken und Judenstern. Wilke: „Stellt euch vor, ihr müsst damit immer herumlaufen. Nur damit alle wissen: Da kommt ein Jude.“ Solche Sätze haben angesichts eines europaweiten Rechtsrucks nichts an Aktualität eingebüßt.

Marianne Wilke: „Es gibt keine minderwertigen Menschen“

„Die wichtigste Lehre aus dieser Zeit steht im Artikel 1 des Grundgesetzes.: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Es gibt keine minderwertigen Menschen“, mahnte Wilke. Die Schüler forderte sie immer auf: „Seid niemals gleichgültig!“

Marianne Wilke war zunächst Vorsitzende und dann auch Ehrenvorsitzende der Landesgruppe Schleswig-Holstein der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten. Der Einsatz dauerte Jahrzehnte: In Wedel war sie unter anderem auch im Bündnis gegen Rechts und im Arbeitskreis der Stadt gegen Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit aktiv.

Auch dem Freundeskreis der KZ-Gedenkstätte Ladelund gehörte sie an. Gemeinsam mit ihrem Mann hatte sie einst die Initiative Blumen für Gudendorf – eine KZ-Gedenkstätte in Dithmarschen – ins Leben gerufen.

Marianne Wilke war nahezu bei allen Veranstaltungen in Wedel stets dabei

Bei Veranstaltungen in Wedel, wie etwa den Holocaust-Gedenktagen, den Friedensmärschen an den Ostertagen oder bei den Hiroshima-Gedenktagen, war Marianne Wilke stets dabei. „Sie und ihr Mann waren Vorreiter in der Bewegung Kampf dem Atomtod in Wedel und haben ein paar Jahre nach dem Krieg innerhalb von 14 Tagen 9000 Wedeler für diese Sache mobilisieren können“, erinnert sich Jasker.

Ukraine-Krieg: Auf der Kundgebung am 1. Mai 2022, in Elmshorn sprach sich Marianne Wilke in Begleitung ihres Sohnes Jens gegen die Aufrüstungspolitik der deutschen Regierung aus. 
Ukraine-Krieg: Auf der Kundgebung am 1. Mai 2022, in Elmshorn sprach sich Marianne Wilke in Begleitung ihres Sohnes Jens gegen die Aufrüstungspolitik der deutschen Regierung aus.  © Anne Dewitz

Marianne Wilke hinterlässt ihre erwachsenen Söhne Jens und Dirk, die sich beide ebenfalls dem Weg ihrer Mutter, die Erinnerung an die NS-Verbrechen fortlaufend wach zu halten, angeschlossen haben. Ihr ältester Sohn Ralf war schwer erkrankt und verstarb vor einigen Jahren.

Holocaust-Überlebende gab auch bereitwillig Video-Interviews

Neunt- und Zehntklässler der Wedeler Ernst-Barlach-Gemeinschaftsschule hatten sie im Vorjahr noch zu einem Video-Interview gebeten, damit Zeitzeugen-Berichte auch für kommende Generationen bestehen bleiben.

Marianne Wilke und ihr Mann Günther Wilke im Januar 1982.
Marianne Wilke und ihr Mann Günther Wilke im Januar 1982. © Wolfram Jasker | Wolfram Jasker

Marianne Wilke kann künftig nicht mehr selbst von den Gräueltaten berichten, doch ihr Vermächtnis bleibt. „Wir sind uns alle sicher, dass Marianne auch bei unseren kommenden Veranstaltungen dabei ist. Und wir werden für sie unsere Friedenslieder noch lauter singen“, verspricht Irmgard Jasker.